Logo MFH

Medizinische Flüchtlingshilfe Bochum e.V.

Gerechtigkeit heilt –
Der internationale Kampf gegen Straflosigkeit

Internationaler Kongress vom 14. bis 16. Oktober 2005

Simon Gasibirege
Center for Mental Health, Butare, Ruanda

Für eine alternative, partizipative Justiz mit Versöhnungsabsicht:
die Gacaca-Tribunale in Ruanda

Zwischen April und Juli 1994 wurden in Ruanda mehr als eine Million Tutsis durch Massen anderer ruandischer Bevölkerungsgruppen massakriert, unter denen die Hutus die Mehrheit bildeten. Die Bedingungen, unter denen die Tötungen vorgenommen wurden, zeichnen sich durch eine erschreckende Grausamkeit und einen unglaublich hartnäckigen Zerstörungswillen aus.

Der Völkermord an den Tutsi in Ruanda im Jahre 1994 ist kein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, das durch isolierte Individuen, außergesetzliche Gruppierungen oder durch als solche anerkannte Psychopathen begangen wurde. Er nahm die gesamte Gesellschaft ein und transformierte einen Teil der RuanderInnen zu Henkern und einen anderen Teil zu einem zum schändlichen Tod verurteilten Personenkreis. Seine Ausführung wurde unter der Sicht und dem Wissen aller Medien der Welt realisiert. Er erwies sich als Objekt einer minütiösen Vorbereitung, nicht nur der einzelnen Operationen, sondern auch der Herzen und Geister der Menschen.
In Wirklichkeit handelt es sich in Ruanda um einen Genozid, der Symptom ist für eine tiefe Beschädigung nicht nur individueller Persönlichkeiten, sondern auch einer Gesamtgesellschaft, ihrer Kultur, ihrer Geschichte. Er repräsentiert auch den Zustand dieser Welt, mit der die ruandische Gesellschaft normale Beziehungen unterhält.
Es handelt sich um ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht nur von Individuen, sondern auch von Gesellschaften und stellt konsequenterweise die schreckliche Frage nach ihrer Fähigkeit, die Menschlichkeit ihrer Mitglieder zu gestalten, sie zu schützen und sie in jedem von ihnen zu entwickeln.

Unter diesen Bedingungen erhält die Justiz eine neue Bedeutung und offenbart einen anderen Sinn. Sie betrifft nicht mehr nur einige Individuen, die man zur Ordnung rufen oder die man unschädlich machen muss, sondern sie betrifft einen Großteil der gesamten Gesellschaft. Die implodierte Gesellschaft muss praktisch wieder von Null an aufgebaut werden. Das gleiche gilt für ihre Kultur, ihre Geschichte und ihre Beziehungen mit dem Rest der Welt. In dieser Perspektive disqualifiziert der Genozid an den Tutsi in Ruanda die Justiz, die im Dienste einer bereits organisierten Gesellschaft und deren Funktionsschutz steht. Er ruft nach einer anderen Form der Justiz, einer Justiz, die dazu beitragen kann, eine durch Implosion zerstörte Gesellschaft wieder zu organisieren.

Wenn man in Ruanda von alternativer Justiz spricht, so werden Maximalforderungen gestellt: man fordert keine Alternative, die lediglich einige Aspekte berührt, sondern man fordert eine radikale Alternative. Die Justiz verändert ihr Wesen. Sie ist nicht mehr verankert im Funktionsablauf des Gesellschaftsvertrags und seiner Einhaltung, sondern sie ist vielmehr verankert in der vertraglichen Festschreibung des Sozialen selbst und der Aushandlung der gemeinschaftlichen menschlichen Identität. Daraus ergibt sich, dass eine solche alternative Justiz jeden einbezieht und die Partizipation aller Gesellschaftsmitglieder fordert. Der begonnene Wiederaufbau kann seinerseits nur an Konsistenz gewinnen, wenn er zur selben Zeit einen Versöhnungprozess jedes einzelnen Menschen mit sich selbst und mit seiner Umwelt, jedes Mitglieds der Gesellschaft mit der Kultur und der Geschichte, der Gesamtgesellschaft mit sich selbst in Gang setzt.

In diesem Zusammenhang wurden die Gacaca-Tribunale ins Leben gerufen. Die Funktionen der traditionellen Gacaca-Institution können seine Rechtmäßigkeit garantieren: sammeln, die Wahrheit aufdecken, bestrafen und versöhnen. Doch die Bedingungen ihrer Funktionsweise rufen die Unruhe nicht nur einzelner Beobachter hervor. In dem Vortrag wird es sich eben um diese Diskussion handeln.

(Bochum, 15. Oktober 2005)