Zwischen April und Juli 1994 wurden in Ruanda mehr als eine Million Tutsis durch Massen anderer
ruandischer Bevölkerungsgruppen massakriert, unter denen die Hutus die Mehrheit bildeten. Die
Bedingungen, unter denen die Tötungen vorgenommen wurden, zeichnen sich durch eine
erschreckende Grausamkeit und einen unglaublich hartnäckigen Zerstörungswillen aus.
Der Völkermord an den Tutsi in Ruanda im Jahre 1994 ist kein Verbrechen gegen die
Menschlichkeit, das durch isolierte Individuen, außergesetzliche Gruppierungen oder durch als
solche anerkannte Psychopathen begangen wurde. Er nahm die gesamte Gesellschaft ein und
transformierte einen Teil der RuanderInnen zu Henkern und einen anderen Teil zu einem zum
schändlichen Tod verurteilten Personenkreis. Seine Ausführung wurde unter der Sicht und
dem Wissen aller Medien der Welt realisiert. Er erwies sich als Objekt einer minütiösen
Vorbereitung, nicht nur der einzelnen Operationen, sondern auch der Herzen und Geister der Menschen.
In Wirklichkeit handelt es sich in Ruanda um einen Genozid, der Symptom ist für eine tiefe
Beschädigung nicht nur individueller Persönlichkeiten, sondern auch einer
Gesamtgesellschaft, ihrer Kultur, ihrer Geschichte. Er repräsentiert auch den Zustand dieser
Welt, mit der die ruandische Gesellschaft normale Beziehungen unterhält.
Es handelt sich um ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht nur von Individuen, sondern auch
von Gesellschaften und stellt konsequenterweise die schreckliche Frage nach ihrer Fähigkeit,
die Menschlichkeit ihrer Mitglieder zu gestalten, sie zu schützen und sie in jedem von ihnen zu
entwickeln.
Unter diesen Bedingungen erhält die Justiz eine neue Bedeutung und offenbart einen anderen
Sinn. Sie betrifft nicht mehr nur einige Individuen, die man zur Ordnung rufen oder die man
unschädlich machen muss, sondern sie betrifft einen Großteil der gesamten Gesellschaft.
Die implodierte Gesellschaft muss praktisch wieder von Null an aufgebaut werden. Das gleiche gilt
für ihre Kultur, ihre Geschichte und ihre Beziehungen mit dem Rest der Welt. In dieser
Perspektive disqualifiziert der Genozid an den Tutsi in Ruanda die Justiz, die im Dienste einer
bereits organisierten Gesellschaft und deren Funktionsschutz steht. Er ruft nach einer anderen Form
der Justiz, einer Justiz, die dazu beitragen kann, eine durch Implosion zerstörte Gesellschaft
wieder zu organisieren.
Wenn man in Ruanda von alternativer Justiz spricht, so werden Maximalforderungen gestellt: man
fordert keine Alternative, die lediglich einige Aspekte berührt, sondern man fordert eine
radikale Alternative. Die Justiz verändert ihr Wesen. Sie ist nicht mehr verankert im
Funktionsablauf des Gesellschaftsvertrags und seiner Einhaltung, sondern sie ist vielmehr verankert
in der vertraglichen Festschreibung des Sozialen selbst und der Aushandlung der gemeinschaftlichen
menschlichen Identität. Daraus ergibt sich, dass eine solche alternative Justiz jeden
einbezieht und die Partizipation aller Gesellschaftsmitglieder fordert. Der begonnene Wiederaufbau
kann seinerseits nur an Konsistenz gewinnen, wenn er zur selben Zeit einen Versöhnungprozess
jedes einzelnen Menschen mit sich selbst und mit seiner Umwelt, jedes Mitglieds der Gesellschaft mit
der Kultur und der Geschichte, der Gesamtgesellschaft mit sich selbst in Gang setzt.
In diesem Zusammenhang wurden die Gacaca-Tribunale ins Leben gerufen. Die Funktionen der
traditionellen Gacaca-Institution können seine Rechtmäßigkeit garantieren: sammeln,
die Wahrheit aufdecken, bestrafen und versöhnen. Doch die Bedingungen ihrer Funktionsweise
rufen die Unruhe nicht nur einzelner Beobachter hervor. In dem Vortrag wird es sich eben um diese
Diskussion handeln.
(Bochum, 15. Oktober 2005)