Rede, Ewald Groth
Kundgebung "Anklagebank statt Lehrstuhl"
Donnerstag, 10.07.03, 16.30 Uhr, Husemannplatz


Liebe Freundinnen, liebe Freunde,

der Anlass, der unseren gemeinsamen Protest herausfordert, geht nun in die dritte und hoffentlich die letzte Runde. Erneut findet sich in diesen Tagen in den Hörsälen und Seminarräumen dieser Universität ein Mann wieder, den die Universitätsleitung besser nicht dorthin eingeladen hätte: Mesut Yilmaz, ehemaliger Ministerpräsident der Türkei.

Dreimal hat Yilmaz dieses Amt bekleidet, und für jede dieser Phasen ist die Liste der Menschenrechtsverletzungen, die währenddessen passiert sind, unendlich lang.
Oppositionelle wurden willkürlich verhaftet, gefoltert, vergewaltigt und ermordet oder auf offener Straße entführt und sind nie wieder aufgetaucht. Kurdische Dörfer wurden überfallen und dem Erdboden gleichgemacht. Ihre EinwohnerInnen wurden vertrieben, sie flüchteten in die Slums der Großstädte und nicht wenige von ihnen auch ins Europäische Ausland - bis hier zu uns nach Bochum.
Mit ihnen gemeinsam haben wir über all die Jahre gegen das Unrecht protestiert, das sich in ihrem Land ereignete.

Ich selbst bin mehrfach vor Ort gewesen und konnte mich mit eigenen Augen davon überzeugen, was Menschen geschah, deren einziges Verbrechen es war, die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte beim Wort zu nehmen.
Ich werde nie den Tag vergessen, an dem wir - mein Freund Knut Rauchfuss, die ehemalige PDS-Bundestagsabgeordnete Ulla Jelpke und ich - unseren Freund, den weltweit geachteten türkischen Menschenrechtler Akin Birdal ins Gefängnis begleiteten. Einen aufrechten Streiter gegen das Unrecht, der damals noch gezeichnet war von den Folgen des Attentates, das im Jahr vorher auf ihn verübt worden war. Als sich die Türen des Gefängnisses hinter ihm schlossen, verschlossen sie jedoch nicht seinen Mund, ebenso wenig wie die Münder Tausender anderer, die fortfahren - bis heute fortfahren - und die Verletzung von Menschenrechten in der Türkei anklagen.

Liebe Freundinnen, liebe Freunde,
das Attentat auf Akin Birdal, der Prozess gegen ihn, wegen sogenannter "Meinungsverbrechen", und all jene Menschenrechtsverletzungen, die das "Bündnis für Menschenrechte an der Ruhr-Universität" in seiner Broschüre zusammengetragen hat, diese Dinge geschahen zu einer Zeit, in der Mesut Yilmaz Ministerpräsident der Türkei war oder andere hohe Regierungsämter bekleidete.

Nicht nur ich frage mich daher:
Gehört ein Mann, der die politische und moralische Verantwortung für diese Zeit trägt, gehört dieser Mann als Gastprofessor an eine Universität?
Nein!
Das Bündnis für Menschenrechte fordert zu recht, dass ein Mann wie Mesut Yilmaz vor einem ordentlichen Gericht zur Rechenschaft gezogen werden soll.

Warum ist uns die Aufarbeitung und rechtsstaatliche Verfolgung von Menschenrechtsverletzungen so ein wichtiges Anliegen?
Mesut Yilmaz ist heute kein wichtiger Politiker der Türkei mehr. Seine Partei, deren Vorsitz er niedergelegt hat, ist nicht mehr im Parlament vertreten ...

Liebe Freundinnen und Freunde,
der Weg zur Demokratisierung der Türkei ist ein langer und mühsamer Pfad. Gerade die derzeitige Regierung müht sich, mit Gesetzespaketen im Rahmen des Beitritts zur Europäischen Union die ersten Schritte dorthin zu gehen. Wir begrüßen dies und bieten jede Hilfe an, einer demokratischen Entwicklung in der Türkei die Hand zu reichen. Denn wir wollen dieses Land und unsere dortigen Freundinnen und Freunde eines Tages als festen Bestandteil eines gemeinsamen Europas willkommen heißen können.
Dennoch, trotz wichtiger Erfolge reißt die Kette der Menschenrechtsverletzungen nicht ab. Wie Menschenrechtsorganisationen seit Jahren betonen, liegt dies u.a. auch daran, dass Verantwortliche für ihre Taten nicht zur Rechenschaft gezogen werden. Und in den wenigen Fällen, in denen ausnahmsweise Gerichtsverfahren eröffnet wurden, gingen die Angeklagten mit kurzen Strafen oder gänzlich straffrei nach Hause. Dies gilt für die direkten TäterInnen, und erst recht für die politisch Verantwortlichen.
Doch nur eine lückenlose Aufarbeitung der Vergangenheit, die Aufklärung, die Anklage und die Ahndung von Verbrechen kann eine solide Grundlage gesellschaftlicher Aussöhnung schaffen und zukünftige Verbrechen verhindern helfen.

Weltweit, liebe Freundinnen und Freunde,
weltweit wird seit der Verhaftung des chilenischen Diktators Pinochet in London 1998 mit großem Einsatz für die juristische Aufarbeitung von Menschenrechtsverbrechen gestritten. Nach mühseligen Verhandlungen gelang es, in Den Haag den Internationalen Strafgerichtshof anzusiedeln. Die Bundesregierung hatte daran einen nicht unerheblichen Anteil. Anwälte und Anwältinnen arbeiten in zahlreichen Ländern daran, diejenigen, die die persönliche oder die politische Verantwortung für Menschenrechtsverletzungen tragen, vor Gericht zu stellen.
Die Kampagne "Anklagebank statt Lehrstuhl" ist Teil dieser Bemühungen.

Um allen Missverständnissen vorzubeugen:
dies ist keine Vorverurteilung. Es ist lediglich die Forderung an demokratische Instanzen, die vorgetragenen Vorwürfe vor Gericht zu klären. Denn nur ein ordentliches Verfahren ermöglicht die wirkliche Klärung von Schuld und Unschuld.

Die Klärung von Schuld und Unschuld
- und hier richte ich mich an die Verantwortlichen der Bochumer Universität, die diese Einladung an Mesut Yilmaz ausgesprochen haben -
die Klärung von Schuld und Unschuld ist keine Angelegenheit des wissenschaftlichen Dialogs. Derart weitreichende Vorwürfe, wie sie hier vorgetragen wurden, lassen sich nicht diskutieren.
Über die politische Verantwortung für eine Unzahl an Menschenrechtsverletzungen kann nur auf der Basis von akribischer Recherche, von Anklage und von Verteidigung, von Zeugenvernehmung und Beweismittelerhebung gerichtet werden.
Es stünde der Bochumer Universität nicht schlecht zu Gesicht, sich dieser rechtsstaatlichen Sicht anzuschließen.
Es mag ja sein, dass Sie die Einladung seinerzeit in Unkenntnis all dieser Vorwürfe ausgesprochen haben und in der Hoffnung, mit einem ehemaligen Ministerpräsidenten eine erfahrene Persönlichkeit an die Ruhr-Universität zu holen.
Die bisherige öffentliche Reaktion auf die Gastprofessur jedoch weist in eine entgegengesetzte Richtung. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie heute noch mit Ihrer Entscheidung zufrieden sind.
Doch es ist nie zu spät, meine Damen und Herren, es ist nie zu spät, einmal erkannte Fehlentscheidungen rückgängig zu machen. Gerade auch, da gegen Herrn Yilmaz nun in der Türkei zumindest ein Verfahren wegen schwerer Korruption eröffnet werden soll, wie ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss vergangene Woche bekannt gegeben hat.
Ich appelliere daher an die Ruhr-Universität, ihre Entscheidung zu überdenken und die Gastprofessur bis zur Klärung der Vorwürfe auszusetzen.

Darüber hinaus ist es unerlässlich, auf allen Ebenen den internationalen Menschenrechtsschutz zu stärken und die Möglichkeiten auszubauen, um Verantwortliche vor Gericht zu stellen.

Dies sage ich gerade auch in dem Wissen, dass die juristische Aufarbeitung von Menschenrechtsverletzungen für alle in der Türkei lebenden Menschen einen wichtigen Gewinn an Rechtssicherheit darstellen würde.

Die Zukunft einer demokratischen Türkei ist unser Anliegen, einer Türkei, die dann auch herzlich eingeladen sein wird, vollwertiges Mitglied der Europäischen Union zu sein.
Ich sage dies auch als Mitglied der deutsch-türkischen Parlamentariergruppe, die sich dem Kontakt mit der Türkei verschrieben hat.