"Packen Sie Ihre Koffer, Herr Yilmaz!"

 

Rede zur Kundgebung am 10. Juli 2003,
von Knut Rauchfuss, Medizinische Flüchtlingshilfe Bochum

Liebe Freundinnen, liebe Freunde,

niemand kann heute mehr sagen, man habe nicht gewusst, wer sich hinter den Mauern dieses Hauses verborgen hält.
Niemand kann sagen, man kenne nicht Mesut Yilmaz, der seine Amtsjahre als türkischer Premierminister damit zubrachte wegzuschauen, wenn seine Schergen hilflose Menschen quälten, Yilmaz, der sich von den Bajonetten ins Amt heben ließ und dafür ihre Lügen zu den seinen machte.
Die Lügen vom Krieg gegen den "kurdischen Terrorismus", der doch immer nur ein Krieg gegen die kurdische Bevölkerung war, dessen angebliche Terrorbastionen doch stets als kurdische Dörfer in Flammen aufgingen, dessen sogenannte Terrorkommandos als MenschenrechtsaktivistInnen und JournalistInnen die Knäste füllten, dessen vorgeblich Terrorverdächtige lediglich voller Angst nach dem Schicksal ihrer verschwundenen Angehörigen fragten und dessen herbeigelogene TerroristInnen so oft auch noch als Leichen die Puppe im Arm umklammert hielten.

Niemand kann sagen, man wisse nicht um die Schicksale derer, die diese Jahre überlebten, die Haft und Folter, Schläge und Vergewaltigung, Attentate und Entführungen überstanden, die flüchteten zu Millionen, die vertrieben wurden aus ihren Häusern, Dörfern und Regionen und ihre Trauer, ihre Wut und ihre Ohnmacht über den Verlust von FreundInnen und Verwandten mit sich trugen im Gepäck, die ihren Schmerz mitbrachten bis zu uns.
Niemand kann mehr sagen, man habe ja weit weg gelebt von alledem, zu weit, um zu sehen, zu weit, um zu reagieren, zu weit, um beteiligt zu sein. Die Überlebenden, sie teilen S-Bahnen, Arbeitsplätze und Hörsäle mit uns, sie leben in unserer direkten Nachbarschaft, ganz nah, seit Jahren schon. Ihre Geschichte ist längst Teil unseres Alltags geworden.

Und die Täter? Wie weit sind sie von uns entfernt? Nicht wenige waren schon immer unter uns. Diejenigen, die verdienen an den Waffenlieferungen und Foltergerätschaften "Made in Germany". Nun ist einer hinzugekommen, einer der Hauptverantwortlichen, einer, an dessen Händen das Blut Tausender Unschuldiger klebt. Dieser Mann, liebe Freundinnen und Freunde, der ehemalige Premierminister des Staatsterrors, er versteckt sich hinter diesen Mauern vor unserem Protest.
Und mit ihm all jene, die nicht länger sagen können, sie hätten nicht gewusst, was sie taten, als sie Mesut Yilmaz einluden, ihr neuer Gastprofessor zu werden. Schlimmer noch: sie wissen viel und sie brüsten sich noch dessen.
Sie sammeln sich in Debattierzirkeln mit Kennerblick und kopfnickendem Lächeln, mit orientiertem und belesenem Mund, mit Zitat und Literaturhinweis. Niemand von ihnen kann sagen, man habe nichts gewusst. Sie wissen um jede Grausamkeit, und ihr Schweigen und ihre Zögerlichkeit ist heute nicht mehr viel weniger als offene Kumpanei.
Wie viel Insiderwissen über Folter und Mord haben Sie sich denn schon verschaffen können, meine Damen und Herren des universitären Dialoges?
Wie viele Informationen haben Sie aus erster Hand zu fressen bekommen, über Krieg und Zerstörung und die brillanten Möglichkeiten, sich daran zu bereichern?
Wie viel konnte Ihnen Ihr Gastprofessor berichten über die Techniken der Korruption und der Unterschlagung?
Wie selbstverliebt lauschen Sie dem ehemaligen Europaminister, während er die zukünftigen Segnungen der türkischen Armee für die Europäische Union preist?
Bei Mesut Yilmaz sitzen Sie stets in der ersten Reihe. Und in den Reihen hinter Ihnen? Dort lassen Sie sich Ihren universitären Dialog durch Uniformierte abschirmen. So viel zumindest haben Sie schon von Ihrem Gastverbrecher gelernt.

Doch trotz aller Ignoranz, liebe Freundinnen und Freunde, trotz der moralischen Bankrotterklärung von Fakultät und Universität, die versammelte Geisteswissenschaft wird es nicht vermeiden können, ihren Gastverbrecher schon in Kürze auf der Anklagebank zu sehen.

Zwar scheint es der politischen Klasse in der Türkei gelungen zu sein, sich über die kollektive Selbstamnestierung aus der Verantwortung für ihre Menschenrechtsverbrechen herausstehlen. Auf Yilmaz jedoch warten weitere Anklagen.
Zumindest wegen schwerer Korruptionsverbrechen soll Mesut Yilmaz nämlich nun doch in der Türkei vor Gericht gestellt werden. Wegen betrügerischer Geschäfte im Energiesektor und bei der Bankenprivatisierung. Dies gab ein Untersuchungsausschuss des türkischen Parlaments in der vergangenen Woche bekannt. Die Beträge, die der Bevölkerung der Türkei auf diese Weise gestohlen wurden, sollen sich insgesamt auf 160 Milliarden US-Dollar belaufen.
160 Milliarden! Wissen Sie überhaupt, wie viele Nullen das sind, Herr Andersen?
160 Milliarden! Das ist das Zehnfache jener Summe, die die hochverschuldete Türkei seit 1999 als Kredite des Internationalen Währungsfonds erhalten hat.
Könnte man dieses Geld zurückholen, so wäre die Krise des türkischen Wirtschafts- und Finanzsystems mit einem Male beseitigt.

Allein die Käufe von russischem Erdgas zu Wucherpreisen kosteten die öffentlichen Kassen mehr als 50 Milliarden.
Die derzeitige Regierung, Herr Yilmaz, ist überzeugt, dass Sie persönlich diese Verträge auf den Weg gebracht haben. Sie sollen gar von der Inszenierung künstlicher Stromausfälle gewusst haben, die einen Engpass im Energiesektor vortäuschen sollten.
Dies zumindest ließen ehemalige Mitarbeiter der Anti-Korruptions-Sondereinheit der türkischen Polizei wissen, die Sie wegen ihrer effizienten Ermittlungen auflösen und Innenminister Tantan entlassen ließen. Aus diesen Polizeikreisen ist zu hören, Herr Yilmaz, die Sondereinheit sei damals Ihrem Bruder Turgut zu nahe gekommen, der einer der Großen in der Energiebranche des Landes ist.
Wem wollen Sie eigentlich erzählen, Sie seien nie nach dem Gaspreis gefragt worden?
Das klingt fast wie jene Worte, die den Ausschuss bei der Vernehmung Ihres Kollegen Özkan aufstöhnen ließen, als jener erklärte, er wisse von nichts, ihm sei ausschließlich bekannt, wie man einen Lichtschalter einschalte.

Und die Privatisierung der Banken, Herr Yilmaz?
Durch den Bankenkollaps, den Sie durch dubiose Privatisierungspraktiken mitverschuldeten - durch den Verkauf an persönliche Günstlinge und die Bedrohung möglicher Konkurrenten mit Hilfe mindestens eines international gesuchten Killers, durch die Duldung von Kreditfinanzierung für gefälschte Projektanträge im Bausektor im Zuge der Geldwäsche -, durch den in diesen Praktiken begründeten Bankenkollaps und den nachfolgenden Zusammenbruch des Währungssystems gingen der Türkei weitere 57 Milliarden US-Dollar verloren.

In all diesen Geschäften hatten Sie Ihre Finger, Herr Yilmaz. Diese Plünderungen waren auch Ihr Werk. Soviel zumindest hat die Untersuchungskommission in rund 9.000 Berichtsseiten zusammengetragen. Und, Herr Yilmaz, die Kommission kommt zu dem Schluss, dass aus diesen Gründen ein Verfahren gegen Sie und gegen neun Minister eingeleitet werden sollte.

Dekanin Ilse Lenz muss sich also die Frage gefallen lassen:
Soll Euer Gastverbrecher fortfahren hier zu lehren, während im Herbst eine neue Kommission des türkischen Parlaments darüber entscheidet, ihn vor dem Obersten Gerichtshof anzuklagen?

Ist es nicht wahr, Herr Yilmaz, dass selbst Ihre eigene Partei Sie mittlerweile aufgefordert hat, sich einem Verfahren vor dem Obersten Gerichtshof zu stellen?

Herr Yilmaz! Sie sollen gegenüber der türkischen Zeitung "Vatan" einen weisen Satz geäußert haben. Dort werden Sie mit den Worten zitiert: "Ich gebe der Öffentlichkeit die Gelegenheit, sich von mir zu erholen."
Warum soll dieses Versprechen nur für die türkische Öffentlichkeit gelten?
Geben Sie diese Gelegenheit auch den Menschen hier. Sogar den Professorinnen und Professoren der sozialwissenschaftlichen Fakultät. Wir sind es leid, wieder und wieder dieselben feigen Entschuldigungen zu hören, die sich aus professoralen Mündern quälen. Ersparen Sie diesen Leuten doch die weitere Schande.

In diesem Sommersemester hat ein breites Bündnis gezeigt, dass den BewohnerInnen dieser Stadt die Frage der Menschenrechte auch an der Universität nicht gleichgültig ist. Mehr als 250 Menschen haben sogar international mit der Unterzeichnung eines entsprechenden Schreibens das verkommene moralische Urteilsvermögen der Fakultät gerügt. Und wir haben mit unseren Protesten gezeigt, dass wir nicht bereit sind, zur Tagesordnung überzugehen. Noch, Herr Yilmaz - noch können Sie sich hinter Polizeiuniformen verschanzen. Für die wenigen Tage, die Sie in diesem Semester hier waren, ging das. Aber soll während des kommenden Wintersemesters täglich eine Hundertschaft Ihr Büro im Gebäude GC der Universität umstellen?
Wir haben einen langen Atem, und wir werden auch dann wieder mit phantasievollen Aktionen präsent sein.
Wir werden dafür sorgen, dass es in dieser Stadt für einen Menschenrechtsverbrecher unaushaltbar wird.
Packen Sie Ihre Koffer, Herr Yilmaz! Ihre Zeit in Bochum ist abgelaufen. Sie werden im kommenden Herbst genug damit zu tun haben, Ihre Verteidigung in Ankara vorzubereiten.
Packen Sie Ihre Koffer, Herr Yilmaz! Und nehmen Sie Ihre KofferträgerInnen gleich mit. Denn es ist diese Art von KofferträgerInnen, es sind die Gramkes, die Lenze und die Andersens dieses Planeten, die dazu beitragen, diese Welt wirklich gefährlich zu machen.
Liebe Freundinnen und Freunde, lasst mich schließen mit einem Satz von Albert Einstein, den er den KofferträgerInnen dieses Planeten gewidmet hat. "Die Welt ist viel zu gefährlich, um darin zu leben", schrieb Einstein, "nicht wegen der Menschen die Böses tun, sondern wegen der Menschen, die daneben stehen und sie gewähren lassen."

Aber liebe Freundinnen und Freunde, aber sie werden nicht siegen.
Nicht die Schlächter und VerbrecherInnen und nicht ihre KofferträgerInnen und Vasallen.
Denn trotz alledem: unter dem Pflaster sind noch immer Schritte zu hören - auch in der Türkei.
Selbst hinter Kerkermauern vermochten sie einen verbliebenen Rest an Menschlichkeit nicht zu zerstören.
So oft sie auch die Luft mit ihren Kugeln durchlöcherten, das aufbegehrende Blau des Himmels brachten sie damit nicht zum Auslaufen. Nein.
Die Sabotage der Unterdrückung, sie beginnt mit den kurdischen Bauern, die mit neuen Feldern das verminte Land überziehen.
Sie lebt in der Erinnerung an die Verschwundenen und in den Narben der Folter.
Sie ist eingebrannt und lebendig in den Feuern von Newroz, und sie beginnt unter dem Gesang der MelonenverkäuferInnen.