Zur ersten Kundgebung der Kampagne "Anklagebank statt Lehrstuhl" am 14. Mai 2003 ist ein Reader
erschienen, der die wesentlichen Hintergrundmaterialien zum Fall Mesut Yilmaz zusammenstellt, die bisher nur
online auf der Kampagnenseite der Medizinischen Flüchtlingshilfe Bochum zu finden waren. Er
enthält "Private Killer im Regierungsauftrag. Zusammenarbeit von Staat und Organisiertem
Verbrechen in der Türkei", "Mesut Yilmaz. Dossier über einen
Menschenrechtsverbrecher" sowie das folgende Vorwort.
Die Broschüre kann bei der Medizinischen Flüchtlingshilfe Bochum angefordert werden:
Medizinische Flüchtlingshilfe e.V.
Engelsburger Str. 168, 44793 Bochum
Tel.: (0234) 904 13 80
Fax: (0234) 904 13 81
E-mail: mfh-bochum@gmx.de
Vorwort
Zum Sommersemester 2003 und Wintersemester 2003/04 hat die Ruhr-Universität Bochum den ehemaligen
Ministerpräsidenten der Türkei, Mesut Yilmaz, eingeladen, an der Hochschule zu lehren. Studierende
und Menschenrechtsorganisationen forderten die Universität auf, diese Einladung umgehend
zurückzuziehen.
Warum?
Wenige Tage vor Drucklegung dieses Readers erreichte das „Bündnis für Menschenrechte an der
Ruhr-Universität Bochum“ eine eilige Meldung des türkischen Menschenrechtsvereines IHD, in
der von einer neuerlichen Erstürmung seiner Büroräume durch Polizeikräfte berichtet
wird.
Während die Repression gegen MenschenrechtsaktivistInnen in der Türkei nach wie vor zum Alltag
gehört, ist die Menschenrechtsbilanz des Landes weiter verheerend.
Allein in den ersten drei Monaten dieses Jahres wurden nach Angaben des IHD 216 Personen in der Haft
gefoltert und misshandelt, 53 weitere in ihrer Wohnung oder auf der Straße.
Immer wieder werden Zeitungen, Radio- und TV-Sender temporär verboten, Bücher beschlagnahmt und
allein bis Ende März 9 JournalistInnen festgenommen.
Der Generalstab der Türkei veröffentlichte Mitte April eine schwarze Liste von 33
ausländischen Organisationen, die angeblich „unter dem Deckmantel 'Humanitäre Hilfe' der PKK
logistische Hilfe geleistet“ hätten, darunter das Alfred Nobel Institut, Amnesty International,
Ärzte gegen Folter, Human Rights Watch, die Internationalen ÄrztInnen gegen Atomkrieg (IPPNW),
Medico International, das Rehabilitationszentrum für Folteropfer Berlin und eine Gliederung von ATTAC.
Dass sich die Menschenrechtssituation in der Türkei seit Jahren nicht verbessert, liegt u.a. auch
daran, dass Verantwortliche für ihre Taten nicht zur Rechenschaft gezogen werden und in den wenigen
Fällen, in denen Gerichtsverfahren eröffnet wurden, die Angeklagten straffrei ausgingen.
Dies gilt für die direkten TäterInnen ebenso, wie für die politisch Verantwortlichen.
In zahlreichen Ländern der Welt wird seit der Verhaftung des chilenischen Diktators Augusto Pinochet in
London 1998 mit großem Einsatz für eine juristische Aufarbeitung von Menschenrechtsverbrechen
gestritten. Mit großem Trickreichtum, einem hohen Maß an Akribie und einem langen Atem versuchen
Menschenrechtsorganisationen und Anwaltsvereinigungen die Schicksale von Opfern aufzuklären,
Überlebende zu rehabilitieren und die Täter ihrer verdienten Strafe zuzuführen. Gleichzeitig
wurde mit gewissem Erfolg die Einführung einer internationalen Strafgerichtsbarkeit erstritten. Vor dem
Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag sollen sich zukünftige VerbrecherInnen gegen die
Menschlichkeit verantworten müssen. Bisherige leider nicht.
In der Türkei ist die Straflosigkeit von Menschenrechtsverletzungen nach wie vor Staatsdoktrin.
Darüber können auch einzelne Verfahren, die in Konzession an die europäischen Beitrittsregeln
erfolgen, nicht hinwegtäuschen.
Der ehemalige türkische Ministerpräsident Mesut Yilmaz gehört zu jenen, die an den
Menschenrechtsverbrechen in der Türkei eine wesentliche Mitschuld tragen. Yilmaz war in der Zeit vom
Juni 1991 bis zum November 1998 mit Unterbrechungen dreimal Ministerpräsident, später hatte er
unter Ministerpräsident Ecevit das Amt des Stellvertreters inne.
In den Neunziger Jahren weitete sich der Krieg des türkischen Militärs gegen die Bevölkerung
in den kurdischen Provinzen der Türkei dramatisch aus. Insgesamt verloren 30.000 Menschen in diesem
Krieg ihr Leben, Tausende Dörfer wurden zerstört, Millionen ergriffen die Flucht. Ohne Zahl sind
die Verletzten. Ebenso endlos präsentieren sich die Listen der Verhafteten und in der Haft
Verschwundenen, der Vergewaltigten und der Gefolterten dieser Jahre. Die kurdische Frage ist in der
Türkei bis heute ebenso ungelöst wie die Frage von Recht und Demokratie.
Dieser Reader schildert die Hintergründe jener Entwicklungen und zeigt Yilmaz’ politische
Mitverantwortung an diesen Verbrechen auf, die u.a. mit Zitaten aus seinen öffentlichen
Erklärungen belegt werden.
Hierzu zählen politische Prozesse und Attentate gegen MenschenrechtsaktivistInnen ebenso, wie
Übergriffe auf legale kurdische Parteien und deren Abgeordnete. Noch in seiner Regierungserklärung
vom März 1996 bekannte sich Yilmaz ausdrücklich zur Fortsetzung des Krieges gegen die kurdische
Bevölkerung.
Darüber hinaus enthält der Reader detaillierte Hintergrundinformationen zu der Funktion, die dem
Organisierten Verbrechen in der Türkei bei der Bekämpfung Oppositioneller zugeteilt wurde und
wird. Todesschwadronen entführen und exekutieren Menschen auf offener Straße. Dafür wurden
ihnen vom türkischen Staat weitreichende Freiräume in den Bereichen Drogenhandel und
Glücksspiel eingeräumt. Wegen seiner Verbindungen zum Organisierten Verbrechen musste Yilmaz 1998
als Ministerpräsident zurücktreten. Sein direkter Kontakt zu wenigstens einem international
gesuchten Auftragskiller wird entlang zahlreicher Indizien herausgearbeitet.
Ob all dies auch justiziabel ist, wurde mangels einer unabhängigen türkischen Gerichtsbarkeit nie
überprüft. Mehrfach jedoch wurde die Türkei vom Europäischen Gerichtshof in
Straßburg wegen Menschenrechtsverletzungen verurteilt.
Mesut Yilmaz gehört nicht an einen Lehrstuhl, sondern auf die Anklagebank. Dort soll er sich für
die Verbrechen des türkischen Staates, dessen Ministerpräsident er lange Zeit war, verantworten.
Im rechtlichen Sinn geht es bei der Anklage von Menschenrechtsverbrechen um die Klärung von
Vorwürfen und Schuld, wie sie nur vor einem ordentlichen Gericht und in einem rechtsstaatlichen
Verfahren möglich ist. Im politischen Sinne geht es um die Prävention zukünftiger Verbrechen.
Der Reader „Anklagebank statt Lehrstuhl“ soll seinen Teil dazu beitragen, Indizien
zusammenzutragen, die die Vorwürfe gegen Yilmaz belegen.
Eine juristische Beweisaufnahme und Urteilsfindung muss den Gerichten vorbehalten bleiben, vor denen sich
Menschenrechtsverbrecher vom Schlage eines Mesut Yilmaz in Zukunft hoffentlich immer öfter verantworten
müssen.
Bochum, 13. Mai 2003
Knut Rauchfuss