Von Knut Rauchfuss
„Hast Du schon gehört? Sie haben wieder zugeschlagen. Unser
Freund lebt nicht mehr. Sie haben ihn …“ – solche
oder ähnliche Anrufe mit Schreckensmeldungen über Attentate
und Auftragsmorde an türkischen und kurdischen Oppositionellen
waren vor zehn bis fünfzehn Jahren noch die Regel, wenn sich am
Telefon aufgewühlt und niedergeschlagen ein Freund oder eine
Freundin aus der Türkei meldete. Es war die bleierne Zeit der
Neunziger Jahre, in denen Todesschwadronen im staatlichen Auftrag
entführten, folterten und mordeten, um den kurdischen Aufstand im
Osten des Landes niederzuschlagen. Eine Zeit, in der man es schon als
ermutigend empfinden konnte, wenn der Anrufer oder die Anruferin
wenigstens vermeldete, dass das Anschlagsopfer noch auf irgendeiner
Intensivstation ums Leben kämpfte.
Seit einigen Jahren sind diese Anrufe seltener geworden, sie haben jedoch nie ganz aufgehört.
Jede dieser Nachrichten war – für diejenigen, die es wissen
wollten – auch stets ein Zeichen für die Allmacht des so
genannten „tiefen Staates“ in der Türkei, einer
Verbindung zwischen offiziellen staatlichen Organen und dem
organisierten Verbrechen. Schier endlos ist die Kette der Namen von
Ermordeten und Verschwundenen, die auf das Konto dieser Auftragskiller
gingen. Schätzungen sprechen von bis zu 17.000 Opfern, und
Menschenrechtsorganisationen haben noch immer rund 5.000
ungeklärte Todesfälle registriert. Wer den offiziellen
Versionen widersprach und die illegalen Strukturen des kemalistischen
militärisch-bürokratischen Apparats für die Morde
verantwortlich machte, setzte sich leicht dem Verdacht aus, sich in der
politischen Analyse von Verschwörungstheorien leiten zu lassen.
Doch der tiefere Blick in den realen Machtstrukturen des Landes, konnte
die Lektüre von Autoren wie John le Carré tatsächlich
schnell in den Schatten stellen.
Heute stehen Teile dieses „tiefen Staates“ in der Nähe
von Istanbul vor Gericht. 5.818 Seiten umfassen die drei
Anklageschriften gegen bislang 194 Angeklagte. Ihnen wird zur Last
gelegt, in einem Netzwerk namens „Ergenekon“ den Umsturz
der derzeitigen türkischen Regierung betrieben zu haben. Von
geplanten Attentaten und Terroranschlägen zur Destabilisierung des
Landes ist dabei ebenso die Rede wie von Propagandafeldzügen gegen
die Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan. Auch
vier konkrete Putschvorbereitungen zwischen 2002 und 2009 werden
Ergenekon vorgeworfen, sowie die Infiltrierung militanter Gruppen,
einschließlich der PKK.
Im Zuge der Ermittlungen wurden nicht nur einige geheime Waffenlager
ausgehoben, intimes Material zur Erpressung von Justizbeamten und
JournalistInnen sichergestellt und Aufzeichnungen über die
Struktur des Netzwerkes und seine geplanten Aktivitäten entdeckt.
Die Spuren führen die ErmittlerInnen auch mehr und mehr in die
Vergangenheit des schmutzigen Krieges gegen die demokratische
Opposition. So weisen nicht nur die jüngeren Attentate – wie
auf den türkisch-armenischen Journalisten Hrant Dink, der Anschlag
auf das Verwaltungsgericht in Ankara oder Folter und Mord an drei
protestantischen Missionaren – auf Verbindungen zu Ergenekon hin.
Auch das Pogrom gegen alevitische SchriftstellerInnen im Jahr 1993 in
der Stadt Sivas oder das Verschwindenlassen von kurdischen
Oppositionellen während der 1990er Jahre werden nach und nach in
die Anklagepunkte aufgenommen.
Ein in den geheimen Nachrichtendienst der Gendarmerie eingeschleuster
Informant lokalisierte eine Reihe von Orten, an denen Leichen
verscharrt worden sein sollen. Im vergangenen Oktober gelang es, die
ersten Knochen zu bergen. Weitere Exhumierungen folgten, die Knochen
werden derzeit noch identifiziert. Die als
„Samstagsmütter“ bekannten Angehörigen der
Verschwundenen erstatteten Anzeige wegen Verschleppung und Mord. Im
März 2009 wurde der ehemalige Oberst Cemal Temisöz verhaftet.
Gemeinsam mit einem lokalen Chef der Gendarmerie muss er sich nun im
Ergenekon-Prozess für diese Verbrechen verantworten.
Das Gerichtsverfahren hat seit den ersten Verhaftungen im Juni 2007 die
türkische Gesellschaft stark verändert. Umfragen zufolge
halten weite Teile der Bevölkerung das Vorgehen gegen den
„tiefen Staat“ für richtig. Immer wieder demonstrieren
Tausende zur Unterstützung des Gerichtes.
Viele sehen die Prozesse jedoch zu Recht auch skeptisch, vor allem,
wenn in den kemalistischen Medien Ergenekon lediglich als kriminelle
Bande dargestellt wird. „Wir kennen nur etwa zwanzig Prozent der
Tentakel dieser Krake“, erklärt der ehemalige Major Ali
Cosar, der mit dem Militärputsch von 1997 aus der Armee entfernt
wurde. Cosar schätzt, dass der „tiefe Staat“ rund
20.000 Mitglieder in der zivilen und militärischen Bürokratie
sowie in der Geschäftswelt des Landes aufweist. „Achtzig
Prozent wurden entweder vorübergehend eingefroren oder setzen ihre
Arbeit im Stillen fort.“ In der Tat fällt auf, dass sich
unter den Angeklagten kein einziger Politiker der Neunziger Jahre
befindet, obgleich ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss und
Presseenthüllungen in der zweiten Hälfte der Neunziger Jahre
Kontakte von Banden des „tiefen Staates“ zu den damaligen
MinisterpräsidentInnen Tansu Çiller und Mesut Yilmaz
nahelegten. Zumindest eine Todesschwadron soll direkt dem damaligen
Innenminister Mehmet Agar unterstanden haben.
Dass aber zu den Angeklagten sehr wohl eine Reihe hochrangiger
ehemaliger Militärs, sowie auch einige noch im Dienst befindliche
Offiziere gehören, zeigt, dass es der Regierung Erdogan durchaus
ernst damit ist, der Unantastbarkeit der türkischen
Streitkräfte ein Ende zu setzen. Im Juni verabschiedete das
Parlament ein Gesetz, das Angehörige des Militärs nunmehr der
zivilen Justiz unterstellen soll, und auch die Abschaffung der in der
Verfassung garantierten Amnestie für die Putschisten des 12.
September 1980 wird mittlerweile offen diskutiert.
Trotz großer Zustimmung von Seiten der Bevölkerung spaltet
der Ergenekon-Prozess und die damit verbundene partielle Aufhebung der
Straflosigkeit des „tiefen Staates“ jedoch das politische
Establishment der Türkei. Als sich Ministerpräsident Erdogan
zum „Chefankläger“ gegen das Ergenekon-Netzwerk
ernannte, antwortete ihm der Führer der oppositionellen CHP, Deniz
Baykal, „wenn Erdogan der Chefankläger ist, so bin ich der
Verteidiger.“ Damit ist eigentlich alles gesagt, denn das
politische Handeln bestimmt sich exakt nach diesen Koordinaten. Derzeit
klagt die nationalistisch-autoritäre CHP vor dem
Verfassungsgericht gegen die Einschränkung der Zuständigkeit
der Militärgerichte. Gemeinsam mit der faschistischen MHP und
jenem Teil der Zivilbevölkerung, die der
religiös-konservativen AKP-Regierung einen erneuten Staatsstreich
vorziehen, warnt Baykal vor einem Siegeszug des islamischen
Fundamentalismus in der Türkei und schmäht die Prozesse gegen
Erenekon als Rachefeldzug speziell gegen jene Militärs, die 1997
die damalige islamistische Regierung stürzten, und als
Diskreditierung der türkischen Streitkräfte insgesamt. Die
hohe Zahl inhaftierter ZivilistInnen sei ein Zeichen politischer
Verfolgung jeder Form von laizistischer Kritik an der Politik der AKP.
In der Tat weckt die hohe Zahl festgenommener JournalistInnen und
Universitätsprofessoren auch bei unabhängigen BeobachterInnen
Zweifel. Eine genauere Lektüre der Anklageschriften macht jedoch
deutlich, welch hohe Bedeutung den zivilen kemalistischen
Führungseliten innerhalb von Ergenekon tatsächlich zukommt.
Auch das Argument, die AKP-Regierung habe die Ergenekon-Verfahren nur
inszeniert, um dem Verbotsverfahren gegen die eigene Partei im
vergangenen Jahr ein politisch-juristisches Gegengewicht
entgegenzusetzen, verkehrt sich ins Gegenteil, sobald man die zeitliche
Abfolge beider Prozesse in Rechnung stellt.
Es ist durchaus wahrscheinlich, dass die Regierung Erdogan die
Demokratisierungsschritte der letzten Jahre nicht aus innerster
Überzeugung vollzogen hat. Im Unterschied zu ihren GegnerInnen
jedoch setzt sie darauf, ihre Machtpositionen durch Demokratisierung
und Entmilitarisierung auszubauen und nicht durch politische
Interventionen der Streitkräfte. Dass Schritte wie der
Ergenekon-Prozess überhaupt möglich wurden, ist
außerdem den Recherchen mutiger JournalistInnen zu verdanken. So
macht zum Beispiel die linksliberale Zeitung „Taraf“ seit
ihrer Gründung vor etwa einem Jahr mit Enthüllungsgeschichten
über die rechtsnationalistischen Kreise und über das
Militär auf sich aufmerksam. Über die AKP sagt Chefredakteur
Ahmet Altan: „Unsere Gemeinsamkeiten reichen nur so weit, wie sie
die Freiheitsrechte ausbauen, und enden dort, wo sie sich von
bestimmten Freiheiten abwenden.“
Im Moment jedoch setzt die türkische Regierung ihren
Demokratisierungsfeldzug unbeirrt fort. Aus ersten mutigen
Eingeständnissen Erdogans, die Türkei habe „ein
Kurdenproblem“, folgte zum Jahresbeginn die Eröffnung des
Staatssenders TRT 6, der erstmals in kurdischer Sprache sendet, und die
Einrichtung von Kurdologie-Instituten an drei Universitäten. In
einem Land, in dem noch vor elf Jahren ernsthaft die Änderung der
Farben von Verkehrsampeln erwogen wurde, weil diese eine
„terroristische“ Farbfolge aufweisen, und die Benutzung der
kurdischen Sprache radikal verfolgt wurde, kommen bereits diese kleinen
Schritte einer Revolution gleich. Nun, vor dem Hintergrund einer
relativen Schwächung der gesellschaftlichen Macht des
Militärs durch die Ergenekon-Prozesse, wagt sich AKP gar
genereller an die Lösung der kurdischen Frage. Jetzt ist es an der
PKK zu zeigen, ob sie zum Friedensschluss bereit ist, oder sich weiter
zum Instrument des „tiefen Staates“ machen lassen will.
Knut Rauchfuss
(veröffentlicht in ak 542, Oktober 2009)