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Kampagne gegen die Straflosigkeit

Gerechtigkeit heilt

Medizinische Flüchtlingshilfe Bochum e.V.

Vom Kampf gegen die Straflosigkeit in Lateinamerika
ChileArgentinienPeruGuatemala

(Artikelserie in ak – analyse und kritik, von Knut Rauchfuss, 2002)


"Name? Vorname? Beruf?" lauten die drei Eingangsfragen, mit denen der junge Staatsanwalt in Costa Gavras Film "Z" in beeindruckend banaler Weise die Allmacht der zum Verhör vorgeladenen Generäle mit einem Schlag bricht, sie zurückwirft auf das Niveau gewöhnlicher Verbrecher.
Während Gavras 1969 diesen Film drehte, schrieb zeitgleich der chilenische Komponist Victor Jara an einem Lied mit dem Titel "Fragen zu Puerto Montt", in welchem er beklagte, dass die Täter eines Polizeimassakers an acht Bauern in jener südchilenischen Stadt straffrei davonkamen, und dem damaligen christdemokratischen Innenminister Chiles, Pérez Zújovic, die Verantwortung hierfür zuwies. Nur vier Jahre später wurde Victor Jara selbst durch die Schergen von Putschistengeneral Augusto Pinochet ermordet.

Damals wie heute ist das Thema der Straflosigkeit gleich aktuell. Seit Jahrzehnten warten Hunderttausende Opfer der lateinamerikanischen Diktaturen auf jenen Tag, an dem endlich die uniformierten Mörder und Entführer ihrer Länder, die Vergewaltiger und Folterer in staatlichem Auftrag und Sold, durch das Gesetz zur Rechenschaft gezogen werden.
MenschenrechtsaktivistInnen wühlen sich durch die Archive des Kontinentes oder gar, im wahrsten Sinne des Wortes, durch seine Erde. Sie exhumieren Leichenreste, durchforsten Aktenberge, rekonstruieren Tathergänge, archivieren Beweisstücke und tragen Zeugenaussagen zusammen, die die Schuld von Polizei und Militär an Menschenrechtsverbrechen belegen.
Gerichtsverwertbar wären diese Beweise – gäbe es denn auch eine Gerichtsbarkeit, die gewillt wäre, die staatlichen Auftragskiller und ihre Anstifter aus Regierungskreisen abzuurteilen. Und gäbe es nicht die Amnestien, mittels derer sich in nahezu allen Militärdiktaturen die Machthaber noch unmittelbar vor dem Übergang zur Demokratie die eigenen Verbrechen selbst erließen.
Vom Rio Grande bis nach Feuerland sitzen die Verbrecher von gestern in aller Regel noch heute in den Vorstandsetagen der Konzerne, gehen zivilen Berufen nach, beziehen staatliche Pensionen oder verbringen ihren politischen Lebensabend als Senatoren. Unterdessen findet sich in zahlreichen Ländern eine große Zahl jener, die die Diktaturjahre in Gefängnissen, Konzentrationslagern, in Exil und Untergrund verbrachten, heute ohne Arbeit, ohne staatliche Unterstützung und für lange Zeit ohne die ihnen gebührende gesellschaftliche Anerkennung am Rande des öffentlichen Lebens wieder. Nicht wenigen sind bis heute ihre bürgerlichen Rechte nicht zurückgegeben und ihre Berufsverbote nie aufgehoben worden. Auf Entschädigungszahlungen warten die Opfer der Diktaturen vergeblich. Und die Angehörigen jener Oppositionellen, die das Militär abholen und verschwinden ließ, blieben alleine mit ihrer unablässig gestellten Frage: "Wo sind sie?"


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Nicht Rache, sondern Gerechtigkeit
Teil 1: Die juristische Aufarbeitung von Menschenrechtsverbrechen in Chile

"Am Ende essen alle Schweine vom selben Tisch" steht auf dem Transparent, das die Demonstration anführt, und von den Wänden der Stadt fragen Sprayer den Präsidenten: "Ricardo, welches Essen gab es beim Nationalen Sicherheitsrat?", jenem Gremium über das das chilenische Militär bis heute seinen Einfluss auf die Politik der zivilen Regierung ausübt.
Ricardo Lagos – nach eigenem Bekunden nicht etwa der erste sozialistische Präsident Chiles seit dem Mord an Salvador Allende, sondern lediglich der dritte Präsident des Regierungsbündnisses Concertación – steht im Zentrum der Proteste von Menschenrechtsgruppen, zu denen das Netzwerk FUNA aufgerufen hat. "Solange es keine Gerechtigkeit gibt – solange wird es funa geben", schallen die Sprechchöre über die Alameda, über jene zentrale Avenida, die Tausende von DemonstrantInnen direkt auf den Regierungspalast, auf La Moneda hinführt. Wolken von Flugzetteln flattern empor und werden durch den Wind den Umstehenden zugetragen. Gruppen von PassantInnen bleiben stehen, klatschen die Parolen mit, und selbst die Nonnen eines nahegelegenen Klosters an der Plaza de Armas fallen in die Rufe ein, skandieren die noch immer uneingelösten Forderungen nach der Verurteilung der Mörder und Folterer.

Lange war es ruhig in Chile, zu lange. Nach dem formalen Ende der Pinochet-Diktatur wurde fünf Jahre lang keiner der Verantwortlichen vor Gericht gestellt. Und noch weitere fünf Jahre über die ersten isolierten Urteile hinaus sollte die Dekade des Schweigens und der Vertuschung andauern. Jene Generation, die den Übergang zur Demokratie noch in den 80er Jahren unter Wasserwerfern und Polizeiknüppeln erstritten oder im Untergrund erkämpft hatte, konnte und wollte es nicht glauben, dass ausgerechnet jene zivilen Regierungen, die aus ihren eigenen Reihen hervorgegangen waren, sich über Jahre hinweg von den Militärs am Nasenring durch die politische Arena führen lassen würden. Doch zu wenig hat sich in den elf Jahren formaler Demokratie verändert, in denen das Bündnis Concertación den Nachlass der Diktatur bislang verwaltet hat.
Das neoliberale Erbe wurde kritiklos übernommen und weiter vorangetrieben, die Verfassung der Junta blieb unangetastet, und die Verbrecher von gestern sitzen heute in den Vorstandsetagen der Konzerne, gehen ihren zivilen Berufen nach, beziehen staatliche Pensionen oder verbringen ihren politischen Lebensabend als Senatoren. Einer von ihnen, "der Tyrann" im Singular, Augusto Pinochet Ugarte, wurde nach seinem Ausscheiden als Oberbefehlshaber der Streitkräfte unmittelbar zum "Senator auf Lebenszeit" ernannt. Unterdessen findet sich eine große Zahl jener, die die Diktaturjahre in Gefängnissen, Konzentrationslagern, in Exil und Untergrund verbrachten, heute ohne Arbeit, ohne staatliche Unterstützung und für lange Zeit ohne die ihnen gebührende gesellschaftliche Anerkennung am Rande des öffentlichen Lebens wieder. Nicht wenigen sind bis heute ihre bürgerlichen Rechte nicht zurückgegeben und ihre Berufsverbote nie aufgehoben worden. Auf Entschädigungszahlungen warten die Opfer der Diktatur vergeblich. Und die Angehörigen jener Oppositionellen, die das Militär abholen und verschwinden ließ, blieben alleine mit ihrer unablässig gestellten Frage: "Wo sind sie?"
Eine von der Zivilregierung eingesetzte Wahrheitskommission legte zwar einen ausführlichen Bericht über die Verbrechen der Diktatur vor, die Verantwortlichen blieben jedoch namenlos. Zu groß war die Angst, den Taten auch Täter zuzuordnen und gar rechtliche Schritte gegen sie einzuleiten. Mit dem von der Wahrheitskommission erarbeiteten Rettig-Report zog die zivile Regierung den Schlussstrich unter die Vergangenheit.
Und Chile schwieg, fast zehn Jahre lang. Sie schienen sich nicht zu erfüllen, die letzten Worte, die Salvador Allende am 11. September 1973 noch kurz vor seinem Tod über den Äther geschickt hatte, während die Bomben bereits auf den Präsidentenpalast fielen: "Ich glaube an Chile und seine Zukunft. Andere nach mir werden auch diese bitteren und dunklen Augenblicke überwinden, in denen der Verrat versucht, sich durchzusetzen. Sie sollen wissen, dass eher früher als später aufrechte Menschen auf breiten Straßen marschieren werden, um eine bessere Gesellschaft aufzubauen." In den Straßen Santiagos jedoch kämpften nach 1990 hauptsächlich die Kraftfahrzeuge – um das Recht des Stärkeren. Die zivile Regierung schien geschafft zu haben, was das Militär in seiner Brutalität vergebens versucht hatte: die weitgehende Auslöschung der Opposition.

Doch unter der Decke des Schweigens gärte es längst. In akribischer Kleinarbeit versuchten oftmals vereinzelte AktivistInnen in Städten und Dörfern, in Elendsvierteln, Schulen und Universitäten das Unmögliche. Zurückgekehrt aus Gefängnis und Exil, gründeten sie Stadtteilkomitees und Ökogruppen, organisierten Videokooperativen und Jugendprojekte, gaben Konzerte und spielten Theater, diskutierten über die Auswirkungen des Neoliberalismus, sprachen von Verbrechen und Gerechtigkeit und schafften ein neues Bewusstsein bei den ewigen VerliererInnen. "Denken ist wie Liebe machen ..." kündeten über Jahre hinweg erneuerte Wandparolen, "... es ist nicht gesund, abstinent zu bleiben!" Dass ihre Saat irgendwann einmal aufgehen könnte, wagten viele selbst kaum mehr zu glauben. Und während sie noch die Tatenlosigkeit "der desillusionierten Jugend" verfluchten, wurden sie im Oktober 1997 davon überrascht, dass genau diese Jugend zu Zehntausenden in das Stadion von Santiago strömte, das seinerzeit international traurige Berühmtheit als Konzentrationslager der Diktatur erlangt hatte, um an eben diesem Ort des 30. Jahrestages des Todes von Ernesto Che Guevara zu gedenken.
Man schien plötzlich nicht mehr allein. Die ersten kleineren Demonstrationen folgten, Wohnhäuser und Kulturzentren wurden besetzt, Gegenkultur gelebt und Widerstand organisiert, vorbei an den alten Parteien und Seilschaften, an den Männerbünden und Veteranenzirkeln und jenseits der Hierarchien der traditionellen Linken. Das Vertrauen galt der eigenen Kraft, dem eigenen Denken und Urteilsvermögen, aber stets unter positiver Bezugnahme auf den Widerstand der vorangegangenen Generationen. Massen junger Männer desertierten vor dem Militärdienst und tauchten ab. Die Ökologiebewegung schloss sich zusammen mit den Kämpfen der Mapuche, die im Süden Chiles gegen Staudammprojekte rebellierten, die ihre angestammten Siedlungsgebiete bedrohten.

Langsam wich die Angst – nicht zuletzt auch deshalb, weil die Aura der Allmacht, mit der sich das Militär lange Jahre der Unantastbarkeit versicherte, 1995 einen entscheidenden ersten Kratzer erlitten hatte. Damals waren Manuel Contreras Sepulvéda, ehemaliger Chef des Geheimdienstes DINA, und sein Adlatus, General Pedro Espinoza, wegen Mordes an Allendes ehemaligem Außenminister Orlando Letelier inhaftiert worden, obgleich sie massiven Widerstand leisteten. Ihre Verurteilung war überhaupt nur deshalb möglich geworden, weil der Mord an Letelier und seiner US-amerikanischen Sekretärin in Washington geschehen war und somit nicht unter das chilenische Amnestiegesetz fiel. Noch in den Tagen vor der Verhaftung hielt sich der bereits verurteilte Contreras mit seiner Privatarmee im Süden Chiles verschanzt, verhöhnte auf allen Fernsehkanälen die chilenische Justiz, und aus Militärkreisen gelangten offene Putschdrohungen für den Fall seiner Festnahme an die Öffentlichkeit. Über Tage hinweg beherrschte ein Angstklima die chilenische Öffentlichkeit, und in der Linken grassierte die Furcht vor neu gegründeten Todesschwadronen.
Doch Contreras und Espinoza wurden inhaftiert und nichts passierte. Die Drohungen verpufften, und die chilenische Öffentlichkeit konnte erkennen, dass auch das Militär prinzipiell verwundbar war. Die Notwendigkeit der juristischen Aufarbeitung der Verbrechen geriet erneut auf die Tagesordnung.

Seither sind es die Jugendlichen, die ihrerseits den Militärputsch von 1973 selbst nicht miterlebt haben, die nun die Regierung und die schweigende Elterngeneration nach den faulen Kompromissen fragen, die beim Übergang zur Demokratie gemacht wurden, nach der Straflosigkeit für die Verbrecher der Diktatur, nach der Rolle des Militärs heute.
Die Unterstützung, die diesen Prozess beschleunigte, kam aus dem Ausland, wo der spanische Untersuchungsrichter Baltasar Garzón den ehemaligen chilenischen Diktator mit internationalem Haftbefehl suchen ließ. Niemand hätte sich jedoch träumen lassen, welch eine Lawine die Verhaftung Pinochets in London und das 15monatige Tauziehen um seine Auslieferung nach Spanien in Chile und auf dem gesamten Kontinent ins Rollen brächte. Mit einem Male war die Frage des Weltrechtsprinzips auf der Tagesordnung gelandet, welches die Verfolgung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit an jedem Ort der Erde ermöglicht.
Noch einmal gewann Pinochet das Tauziehen. Die britische Regierung ließ ihn nach Chile ausfliegen. Bei seiner Rückkehr nach Santiago ließ sich der General von seinen AnhängerInnen als Sieger feiern. Die weltweiten Proteste schienen nichts genützt zu haben. Demonstrativ ließ er den Rollstuhl auf dem Rollfeld zurück und schritt auf eigenen Füßen in die neu zurück gewonnene Straffreiheit.

Doch die Forderung nach einer Aufarbeitung der Vergangenheit ließ sich nicht mehr aufhalten. Längst hatten die Jugendlichen mit der Gründung des Netzwerkes FUNA begonnen. Inspiriert aus dem Nachbarland Argentinien, wo sich unter dem Kürzel H.I.J.O.S. die Kinder der Verschwundenen zusammengeschlossen hatten, verliehen sie dem Kampf um Menschenrechte ein neues Gesicht. Nicht mehr die Verbrechen alleine sollten im Zentrum ihrer Öffentlichkeitsarbeit stehen, sondern die Verbrecher selbst. 1999 startete die erste funa – abgeleitet von "funar", das soviel bedeutet wie, jemanden "verbrennen", seine falsche Identität auffliegen zu lassen. Die Jugendlichen forschten die Biografien von Tätern aus, fanden heraus, wo diese heute unter falschen Namen leben und arbeiten, und trugen gerichtsverwertbare Beweise über die Verbrechen zusammen, an denen die bis dato Unerkannten beteiligt waren. Unter der Parole "Solange es keine Gerechtigkeit gibt – solange wird es funa geben", zogen sie mit über Telefon, Fax und Email eilig alarmierten MitstreiterInnen vor die Wohnhäuser und Arbeitsplätze ehemaliger Täter, verteilten Flugblätter und ließen deren falsche Identität gegenüber NachbarInnen und KollegInnen auffliegen. In den letzten zwei Jahren begannen immer mehr Menschen, sich an den spontan ausgerufenen, aber bestens organisierten funas zu beteiligen. Zu Verhaftungen ist es bislang nie gekommen. Zu sehr fürchten die chilenischen Behörden die gerichtsverwertbaren Beweise, die jeder funa zugrunde liegen.

Die Forderung nach einer Aufarbeitung der Vergangenheit ließ sich nicht mehr aufhalten. Längst hatten auch die traditionellen Menschenrechtsorganisationen den Schwerpunkt ihrer Tätigkeit auf die Anklage der Verbrecher verlagert. Findige AnwältInnen, die die Angehörigen der Verschwundenen vertreten, erreichten in einer klugen Konstruktion die Umgehung der Amnestie, mit der sich die Diktatur seinerzeit die eigenen Verbrechen verzieh. In Bezug auf die Verschwundenen, deren Schicksal nicht geklärt sei, so hieß es vor Gericht, bestehe kein sicheres Wissen darüber, dass sie wirklich tot seien. Solange die Militärs nicht Rechenschaft darüber ablegten, was sie diesen Menschen angetan haben, solange sei im juristischen Sinne von dem Tatbestand einer bis heute andauernden Entführung auszugehen. Damit fiel das Verschwindenlassen von GegnerInnen der Diktatur nicht länger unter die Amnestie.
Auch machte sich die Justiz eine neue Interpretation des Amnestiegesetzes zu eigen. Entgegen der vergangenen Praxis, in der zahlreiche Verbrechen nie zur Anklage gelangten, heißt es heute: bevor jemand amnestiert werden kann, muss er oder sie zunächst schuldig verurteilt sein.
Gegen zahlreiche hohe Militärs wurde Anklage erhoben – auch gegen den Ex-Diktator.
Noch während Pinochet in London unter Hausarrest stand, hatten ehemalige politische Gefangene sich zusammengeschlossen und Klagen wegen der erlittenen Haft und Folter vorbereitet. Sie bereiteten damit den Boden für die Anklageerhebung gegen den Diktator, vor allem wegen des von ihm erteilten Befehls zur sogenannten "Todeskarawane", in deren Rahmen zahlreiche Oppositionelle unmittelbar nach dem Militärputsch in den Gefängnissen ohne Verfahren hingerichtet wurden.
Angesichts der Prozesslawine, die daraufhin über sie hereinbrach, gerieten die Militärs deutlich in die Defensive. Auch die Versuche der zivilen Regierung, die öffentliche Debatte einzugrenzen, fruchtete nicht länger. Im Gegenteil. Mit Untersuchungsrichter Juan Guzmán Tapia hatte die Regierung einen eigenen Baltasar Garzón ernannt, der nunmehr unerbittlich gegen den ehemaligen Diktator ermittelte und Pinochet vorübergehend auch in Chile unter Hausarrest zu stellen vermochte. Der Versuch seiner Anwälte, Pinochet für altersschwachsinnig und daher prozessunfähig erklären zu lassen, blieb zunächst ohne Erfolg.

In dieser Situation erwog das chilenische Militär Anfang 2001 einen juristischen Befreiungsschlag, der sich jedoch zum politischen Rohrkrepierer entwickeln sollte. Das Militär wolle nun endlich Rechenschaft über das Schicksal der Verschwundenen ablegen, um seinen Beitrag an der Aufarbeitung der Vergangenheit zu leisten, hieß es gönnerisch am sogenannten Dialogtisch. Mit Hilfe der zivilen Regierung sollte es damit gelingen, die Ermordung der Verschwundenen festzuschreiben, die Debatte um Menschenrechtsverbrechen auf die Ermordeten zu reduzieren, die Beteiligung des Militärs zuzugeben, aber dadurch gleichzeitig von der Amnestie geschützt zu bleiben. Ein Schachzug, der im juristischen Sinne erfolgversprechend schien.
Anfang Januar 2001 schließlich legten die Streitkräfte der Regierung ihren Bericht vor. In einer auf ergreifende Art vorgetragenen, jedoch inhaltsleeren Rede bedankte sich Präsident Lagos für die gute Zusammenarbeit und versicherte gegenüber der Öffentlichkeit den Stolz, den er für die großartigen Leistungen dieses Landes empfinde.
Doch es dauerte nur wenige Stunden, bis der eigentliche Inhalt des Berichtes bekannt wurde. Von über 1000 Verschwundenen behandelte der Bericht gerade 180, eben jene Fälle, in denen es zu Anklagen gegen Militärs gekommen war. Für 49 von ihnen wurden mögliche Orte von Gräbern angegeben, in denen die Leichen verscharrt worden waren. Die übrigen 131 seien aus Hubschraubern über dem Meer, über Vulkanen und Seen abgeworfen worden. Bei näherer Durchsicht erwies sich gerade für diese Fälle das Material als frei erfunden. Todesdaten wurden aufgeführt, zu denen die Opfer noch nicht einmal verhaftet worden waren oder noch danach Briefe aus der Haft geschmuggelt hatten. Gräber wurden ausgewiesen, in denen keine Leichen gefunden wurden.
Als im Mai 2001 schließlich der Prozess gegen Pinochet "wegen fortschreitenden Altersschwachsinns" eingestellt werden musste, ergriff eine Welle der Entrüstung das Land. "Psychologische Untersuchung Pinochets jetzt überflüssig – nur Psychopathen werfen lebende Menschen ins Meer" titelte die Satirezeitschrift "The Clinic", die sich seit ihrem Erscheinen nach der Verhaftung Pinochets in der Londoner Privatklinik zur Zeitung mit der zweitstärksten Auflage Chiles entwickelt hat. Auch andere Zeitungen waren nicht weniger zurückhaltend. "Keine Angst" hieß es unter einem Cartoon in "punto final", auf dem die psychiatrischen Gutachter mit den Anwälten des Diktators sprechen, "bei uns werden die Befragungen ohne die Anwendung von Elektroschocks durchgeführt."
Tausende versammelten sich spontan in den Straßen, um ein Ende der Straffreiheit und die Verurteilung Pinochets zu fordern. Und seither reißen die Kundgebungen nicht mehr ab. Eine öffentliche Erklärung des chilenischen Innenministers, die Regierung wolle zwar das Schicksal der Verschwundenen aufklären, aber nicht jeder Fall könne vor Gericht gebracht werden, erntete eine Welle der Empörung. Heute ist es in der öffentlichen Diskussion nicht länger möglich, die Menschenrechtsverbrechen auf die Morde der Diktatur zu beschränken. Tausende Folteropfer bereiten Anzeigen gegen die Täter vor.
Pinochet selbst wird zwar nicht mehr vor Gericht erscheinen, seine Autorität hat er jedoch längst verloren, und weite Teile der Bevölkerung stimmen heute in den Ruf "Adiós General" ein, den die Gruppe "Sol y Lluvia" mit ihrem gleichnamigen Lied auf die Straße getragen hat.
Wichtig bleibt, dem Tyrannen den historischen Platz zuzuweisen, der ihm gebührt, die Opfer zu rehabilitieren und nun die Schlächter aus der zweiten und dritten Reihe zur Verantwortung zu ziehen. Nicht zufällig haben bei den Präsidentschaftswahlen Tausende Jugendliche den Namen Baltasar Garzón quer über ihren Stimmzettel geschrieben.
Der Kampf gegen die Straflosigkeit hat insofern gerade erst begonnen.


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"Wir warten noch immer ..."
Teil 2: Die juristische Aufarbeitung von Menschenrechtsverbrechen in Argentinien

Am 22. Juni 1976 – keine drei Monate, nachdem die argentinische Armee durch einen Staatsstreich Präsidentin Isabel Peron abgesetzt hatte – drang ein Militärkommando gewaltsam in das Haus der Lehrerin María Cristina Cournour de Grandi ein. Zusammen mit ihrem Lebenspartner Claudio Nicolas Grandi wurde María Cristina, die damals im 4. Monat schwanger war, entführt und ist seither verschwunden. Zurück blieb Yamila, die zweijährige Tochter der beiden. Yamila ist heute 27 Jahre alt. Gemeinsam mit den Müttern und Großmüttern von der Plaza del Mayo sucht sie nach ihren Eltern und ihrer mittlerweile ebenfalls erwachsenen Schwester.

Yamilas Onkel, Víctor Heredia, ist nicht nur Bruder, Schwager und Onkel von Verschwundenen, er gilt auch als einer der bekanntesten Poeten Argentiniens. Mit "Todavía cantamos" – "Wir singen noch immer" schuf er die landesweite Hymne derer, die noch immer warten, noch hoffen und bis heute dafür einstehen, dass die Schicksale ihrer mehr als 30.000 verschwundenen Angehörigen aufgeklärt und die Täter zur Rechenschaft gezogen werden.
Und so waren es auch mehr als 30.000 Menschen, die am 24. März 2001, zum 25. Jahrestag des Militärputsches, im Eisenbahn-West-Stadion von Buenos Aires die Ränge füllten, um der in Haft "Verschwundenen" zu gedenken, Aufklärung und Gerechtigkeit zu fordern und gemeinsam ihr "Todavía cantamos" anzustimmen. Eingeladen hatten die Mütter der Plaza del Mayo, die seit nunmehr ebenfalls fast einem Vierteljahrhundert demonstrativ ihre Runden um den Obelisken vor dem rosafarbenen Regierungsgebäude in Buenos Aires drehen und – die Bilder ihrer Angehörigen über den Köpfen haltend – unablässig die immer gleiche Frage stellen: "Dónde están?" – "Wo sind sie?"

Große Hoffnungen auf Aufklärung und Strafverfolgung waren 1983 zunächst mit der Rückkehr Argentiniens zu einer zivilen Regierung verbunden. Am symbolträchtigen 10. Dezember, dem internationalen Tag der Menschenrechte, trat Wahlsieger Raúl Alfonsín, von der Radikalen Bürgerunion (UCR), sein Amt als erster wieder frei gewählter Präsident des Landes an. Noch in der ersten Woche seiner Amtszeit verkündete er die Absicht der Regierung, die Menschenrechtsverletzungen der Diktatur zu ahnden und neun Mitglieder der drei Militärregierungen vor Gericht zu stellen. Gleichzeitig wurde mit der CONADEP eine nationale Kommission einberufen, die das Schicksal der in Haft Verschwundenen aufklären sollte.
Unter dem Titel "Nie wieder" legte CONADEP im Folgejahr eine erste Bilanz vor, die die Systematik der Menschenrechtsverbrechen betonte und mehr als 1.000 Verantwortliche namentlich benannte. Dieser Bericht führte 1985 zur Verurteilung zweier von drei ehemaligen Militärdiktatoren. Sechs weiteren ranghohen Offizieren wurde der Prozess gemacht.
Doch ein Jahr später, als die Gerichte begonnen hatten, gegen mehr als 400 weitere Verantwortliche vorzugehen, setzten verschiedene Militärrevolten den Ermittlungen ein Ende. Unter dem Druck der Kasernen verabschiedete das Parlament das Schlusspunktgesetz und das Gesetz über den Befehlsnotstand. Laufende Prozesse wurden eingefroren, die übrigen Täter blieben unbehelligt, und die bereits Verurteilten wurden 1990 von Präsident Menem wieder begnadigt. Die Proteste von Menschenrechtsorganisationen verhallten ungehört, und wie im Nachbarland Chile breiteten Politik, Justiz und Öffentlichkeit einen Mantel betretenen Schweigens über die erste Hälfte der neunziger Jahre.

Und ebenfalls wie im Nachbarland Chile, war es ein spanischer Staatsanwalt, der mit einer Strafanzeige wegen Völkermordes gegen Mitglieder des argentinischen Militärregimes 1996 eine neue Runde im Kampf gegen die Straflosigkeit einläutete.
Auch in Argentinien setzten daraufhin zunächst neue Ermittlungen gegen den ehemaligen Juntachef Jorge Rafael Videla ein. Ein Anlauf des Linksbündnisses FREPASO, das Amnestiegesetz parlamentarisch zu Fall zu bringen, scheiterte jedoch.

Angesichts der Aussichtslosigkeit, die Täter im eigenen Land vor Gericht zu stellen, wandten sich die argentinischen Menschenrechtsorganisationen an die internationale Öffentlichkeit. Strafprozesse in Italien und Frankreich folgten. Und auch in Deutschland gründete sich 1998 die Koalition gegen die Straflosigkeit, die in den Folgejahren in zwölf Fällen von Verbrechen gegen deutsche StaatsbürgerInnen Material gegen zahlreiche Verantwortliche für Anklagen vor hiesigen Gerichten zusammentrug.

Mit der Verhaftung des chilenischen Diktators Pinochet in London erhielten auch die Aktivitäten in Argentinien eine neue Dynamik. MenschenrechtsanwältInnen wurden darauf aufmerksam, dass das Amnestiegesetz sich nicht auf den Tatbestand der Kindesentführung erstreckte. Mit den entführten und ermordeten Oppositionellen hatte die Militärdiktatur auch 300 Kinder "verschwinden" lassen. In den geheimen Folterzentren waren spezielle Entbindungsabteilungen eingerichtet, die sogar Kaiserschnitte ermöglichten. Und wie im Fall von der schwangeren María Cristina Cournour de Grandi wurden die Mütter bis zur Geburt des Kindes am Leben gelassen und erst anschließend von ihren Kindern getrennt und ermordet. In den Folterzentren führten Gynäkologen Listen mit "adoptionswilligen" Bewerbern aus dem Militärapparat, an welche die Kinder unter dem Siegel der Verschwiegenheit weitergeben wurden.
Seit 25 Jahren fordern die Mütter der Plaza del Mayo daher nicht nur die Aufklärung des Schicksals ihrer "verschwundenen" Kinder. Als Großmütter der Plaza del Mayo suchen sie in detektivischer Kleinarbeit ebenfalls nach ihren verschleppten Enkelkindern.
Während Yamila Grandi noch immer vergeblich den Verbleib ihrer nie gekannten Schwester ausforscht, konnten andere Schicksale inzwischen aufgeklärt werden. Über 80 Jugendliche und junge Erwachsene erfuhren auf diese Art in den letzten Jahren von ihrer eigentlichen Identität. Sie sind es, die heute ihre "Adoptiveltern" wegen Verschleppung vor Gericht anklagen. Gemeinsam mit anderen Nachkommen von Opfern der Diktatur haben sich einige von ihnen zur Gruppe H.I.J.O.S – "Nachkommen für die Identität und die Gerechtigkeit, gegen das Vergessen und Verschweigen" zusammengeschlossen. Die Gruppe umfasst mittlerweile etwa 350 Personen.
Im Fall der als Kind entführten Claudia Victoria Poblete, die ihre "Adoptiveltern" wegen Verschleppung verklagte, erging Anfang März 2001 ein aufsehenerregendes Urteil. Der Bundesrichter Gabriel Cavallo verurteilte zwei Offiziere nicht nur wegen der Entführung. Er erklärte darüber hinaus das gesamte Amnestiegesetz für verfassungswidrig und in diesem konkreten Fall erstinstanzlich für ungültig. Es könne nicht angehen, so argumentierte Cavallo, die beiden Täter zwar wegen der Entführung Claudia Victoria Pobletes, nicht jedoch wegen der Ermordung ihrer Eltern zu verurteilen. Das Schlusspunktgesetz, so Cavallo weiter, verstoße gegen Völkerrecht und internationale Abkommen, die in argentinisches Recht übernommen seien. Im November wurde das Urteil durch den Bundesgerichtshof bestätigt und die Amnestiegesetze aufgehoben. Damit ist in Argentinien der Weg für die juristische Verfolgung von Menschenrechtsverbrechen zunächst wieder offen.

Seit 1998 befindet sich auch der 1990 amnestierte Ex-Diktator Videla erneut unter Hausarrest. Diesmal wegen Kindesentführung. Zahlreiche weitere Militärs befinden sich wegen desselben Tatbestandes in Haft. Nach der Aussetzung des Amnestiegesetzes wurde schließlich auch gegen Videla in anderer Sache Haftbefehl erlassen. Der Putschistengeneral sei "Mitglied einer schwerwiegenden illegalen Vereinigung gewesen, die Menschen gewaltsam verschwinden ließ", begründete Bundesrichter Rodolfo Canicoba Corral den Haftbefehl. "Es ist nachgewiesen, dass zwischen den Militärmachthabern Südamerikas eine inoffizielle Vereinbarung bestand, länderübergreifend Menschen zu entführen und andere Verbrechen zu begehen." Damit wurde erstmals die Existenz der "Operation Cóndor" juristisch anerkannt. An dieser organisierten grenzüberschreitenden Verfolgung von RegimegegnerInnen, die vom chilenischen Diktator Pinochet initiiert worden sein soll, waren auch die Regime in Uruguay, Paraguay, Bolivien und Brasilien beteiligt. Die 500seitige Anklageschrift wurde in Kooperation mit den uruguayischen und bolivianischen Behörden erstellt. Sie basiert auf FBI-Akten und dem sogenannten "Todesarchiv", das auf einer Polizeistation in Paraguay gefunden wurde. Das Gericht beantragte darüber hinaus die Auslieferung des paraguayischen Ex-Diktators Alfredo Strössner, der im brasilianischen Exil lebt, sowie des früheren chilenischen Geheimdienstchefs Manual Contreras und zuletzt auch des bolivianischen Ex-Diktators Hugo Bánzer. Gerüchten zufolge soll in nächster Zeit auch die Auslieferung von Augusto Pinochet beantragt werden. Auch Ex-US-Außenminister Henry Kissinger ist in diesem Zusammenhang bereits ins Visier der argentinischen Justiz geraten.

Im Sommer vergangenen Jahres stellte sich auch der als "blonder Todesengel" bekannte Alfredo Astiz der Justiz, nachdem eine Richterin Haftbefehl wegen Kindesentführung gegen den ehemaligen Fregattenkapitän der argentinischen Marine und seinen damaligen Kollegen Jorge Vildoza erlassen hatte. Gegen beide liegen Haftbefehle aus Italien, Frankreich und Spanien vor. Interpol fahndet bereits seit zwölf Jahren nach Asiz, der als einer der brutalsten Folterer und Mörder Argentiniens gilt. Präsident Fernando de la Rua lehnte die Auslieferung an Frankreich und Italien jedoch ab. Bereits 1997 hatte der spanische Richter Baltasar Garzón vergeblich ein Auslieferungsgesuch gestellt.

Im Oktober 2001 ordnete Bundesrichter Cavallo aufgrund eines Haftbefehls des Amtsgerichtes Nürnberg Auslieferungshaft für den ehemaligen Befehlshaber des 1. Heerescorps, Carlos Suarez Mason, an. Ihm wird die Ermordung der Deutschen Elisabeth Käsemann vorgeworfen. Auch im Fall Suarez Mason lehnte de la Rua die Auslieferung ab.
Um die argentinische Regierung zu zwingen, dem Auslieferungsgesuch doch noch zuzustimmen, hat die deutsche Bundesregierung am 10. Dezember 2001 – dem internationalen Tag der Menschenrechte – Klage gegen die Amnestiedekrete vor einem argentinischen Gericht eingereicht. In ihrer Klage bezeichnet die Bundesregierung die Amnestie als völkerrechtswidrig und unvereinbar mit der argentinischen Verfassung.
Im Januar beantragte die Staatsanwaltschaft Nurnberg-Fürth darüber hinaus Haftbefehl auch für zwei Untergebene von Suarez Mason.

Unterdessen verfügte die mexikanische Regierung im Frühjahr 2001 die Auslieferung eines der hauptverantwortlichen Folterer Argentiniens an Spanien. Mit falschem Pass und falschem Vornamen war Ricardo Miguel Cavallo als Geschäftsmann in Mexiko untergetaucht. Die Recherchen eines Journalisten der mexikanischen Tageszeitung "Reforma" brachten seine wahre Identität zum Vorschein. Cavallo wurde im August 2000 in Haft genommen, da der spanische Richter Baltasar Garzón einen internationalen Haftbefehl gegen ihn erwirkt hatte. Zur selben Zeit wurde auch der Folterer Jorge Olivera aufgrund eines französischen Haftbefehls in Italien festgesetzt.
Abhängig vom Ausgang der Berufungsverhandlung im Fall Cavallo und abhängig von den Entscheidungen der italienischen Justiz im Fall Olivera könnte erstmals gelingen, was im Fall Pinochet scheiterte: im Ausland verhaftete Menschenrechtsverbrecher würden real in einem Drittland für ihre Vergehen zur Rechenschaft gezogen.

Derartig weitreichende Schritte im Kampf gegen die Straflosigkeit nehmen die argentinischen Militärs jedoch nicht ohne Widerstände hin. Seit einiger Zeit schlagen sie mit den ihnen wohlvertrauten Mitteln zurück.
So wurde Esteban Cuya, Koordinator der Koalition gegen die Straflosigkeit, im November 1998 bei einem Recherche-Besuch in Buenos Aires in einem Taxi entführt und von mehreren Personen, die in zwei schwarzen Autos mit getönten Scheiben heranfuhren, schwer misshandelt und seiner mitgeführten Prozessunterlagen beraubt.
Seither verschärfen sich auch Drohungen gegen die Mütter der Plaza del Mayo. Im Juni 2001 wurde Maria Alejandra, Tochter von Hebe Bonafini, der Präsidentin der Organisation, Opfer eines Attentats in ihrem eigenen Haus, wo sie von Unbekannten, die sich als Angestellte der Telefongesellschaft ausgaben, überfallen und gefoltert wurde.
Nach Berichten der Koordination gegen die politische und institutionelle Repression (CORREPI) wurden alleine zwischen dem Ende der Militärdiktatur und 1998 insgesamt 470 Morde von argentinischen Sicherheitskräften begangen.

Zum Jahreswechsel erlebte Argentinien eine Reihe von Regierungswechseln, als Folge sozialer Aufstände im Zuge der jüngsten ökonomischen Krise des von Korruption und neoliberalen Experimenten ausgeplünderten Landes. Die Auswirkungen der dadurch entstandenen Instabilität auf die Verfolgung von Menschenrechtsverbrechen lässt sich derzeit kaum absehen.
Einerseits hat die argentinische Zivilgesellschaft eine neue offensive Rolle übernommen, die sich auch auf Forderungen nach einem endgültigen Ende der Straflosigkeit ausdehnen könnte.
Andererseits gilt als sicher, dass die Regierung Duhalde die angestrebte Stabilität eher auf einen Schulterschluss mit den Militärs zu gründen gedenkt.
Die vorübergehende Hoffnung auf Aufhebung der Amnestie, die Duhaldes Vorgänger Adolfo Rodriguez Sáa zwischenzeitlich hervorrief, als er Alberto Zuppi, den Vertreter der deutschen Bundesregierung im Fall Käsmann, zum Justizminister ernannte, fand unter Präsident Duhalde ein ebenso schnelles Ende. Doch innerhalb seiner nur einwöchigen Amtsperiode setzte Zuppi immerhin ein Dekret seines Vorgängers, welches Auslieferungsgesuche wegen Diktaturverbrechen automatisch ablehnte, außer Kraft.


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Der tiefe Wunsch nach Gerechtigkeit
Teil 3: Die juristische Aufarbeitung von Menschenrechtsverbrechen in Peru

Ein Steckbrief wie dieser ist selten. Auf der Internetseite des peruanischen Innenministeriums prangt das Fahndungsfoto des ehemaligen Geheimdienstchefs Montesinos. Schräg darüber gedruckt, kündet der Vermerk "Capturado – Gefangen" von einem der derzeit umfangreichsten Versuche, Menschenrechtsverbrechen in Lateinamerika gerichtlich zu ahnden. Doch nicht nur Montesinos steht in Peru vor Gericht. Mit ihm werden zahlreiche RepräsentantInnen des Fujimori-Regimes für ihre Taten zur Rechenschaft gezogen und ein Prozess umfangreicher Redemokratisierung eingeleitet, der sich auf alle Bereiche von Militär, Polizei, Justiz, Politik, Verwaltung und Gesellschaft des Andenstaates erstrecken soll.

Seit dem 25. Juni 2001 befindet sich Vladimiro Lenin Montesinos Torres, ehemals inoffizieller Chef des Geheimdienstes SIN und eigentlicher starker Mann des Fujimori-Regimes, in Peru in Haft. Ihm wird der Prozess gemacht, wegen Korruption, Drogenhandel und Menschenrechtsverbrechen. Mehr noch als Ex-Präsident Alberto Fujimori selbst repräsentierte der Präsidentenberater mit dem Beinamen "der schwarze Mönch" ein System von Bestechung, Vetternwirtschaft, Wahlbetrug, Erpressung, Entführung, Vergewaltigung, Folter und Mord. Montesinos war nicht nur der Geheimdienstchef, sondern außerdem der Kopf der Todesschwadron "Colina", die für verschiedene Massaker verantwortlich ist.
In der Regierung Fujimori war Montesinos der eigentliche Drahtzieher. Um Ex-Präsident Fujimori und damit sich selbst ein Regierungsjahrzehnt an der Macht zu halten, setzte Montesinos jedes Mittel ein. Spätestens mit dem Staatsstreich, den Fujimori 1992 gegen sich selbst durchführte, begann die Zerschlagung sämtlicher zivilen politischen Strukturen Perus. Das Land wurde systematisch zu einer gleichgeschalteten präsidialen Autokratie.
Montesinos sicherte die Loyalität der Armee, indem er deren Schlüsselpositionen neu besetzte. Fast alle Generäle der Armeespitze gehörten ehemals zu seinem Abschlussjahrgang an der Offiziersakademie. Er organisierte die Gleichschaltung der Justiz, die Bestechung von Verwaltungsbeamten und Parlamentsabgeordneten und besetzte die Redaktionsstuben der Medien mit Günstlingen der Regierung.
Das aus kolumbianischen Drogengeldern finanzierte "System Montesinos" funktionierte perfekt. Wer sich gegen den ehemaligen CIA-Agenten stellte, wurde ausgeschaltet. "Verschwindenlassen" von Menschen, Folter und politischer Mord wurden ab 1993 systematisch und flächendeckend zur Zerschlagung der Opposition eingesetzt.

Umso mehr überraschte vor anderthalb Jahren der spontane Zusammenfall des mafiotischen Kartenhauses. Ein Fernsehsender hatte ein Videoband ausgestrahlt, in dem Montesinos zusammen mit einem später zur Regierungsfraktion übergewechselten Oppositionsabgeordneten zu sehen ist. Auf allen Bildschirmen des Landes sichtbar, überreichte Montesinos in seinem Büro die Bestechungssumme von 15.000 US-Dollar. Er selbst hatte die Übergabe dokumentieren lassen, um sie zu Erpressungszwecken weiterverwenden zu können.
In dieser Situation distanzierte sich der durch Wahlbetrug und öffentliche Proteste ohnehin angeschlagene Präsident Fujimori von seinem engsten Berater und suchte die eigene Haut über die soeben verfassungswidrig angetretene dritte Amtsperiode zu retten. Jedoch ohne Erfolg – je mehr die Verbindungen zwischen Staat und organisiertem Verbrechen an die Öffentlichkeit kamen, desto enger wurde es für den Kleptokraten. Nachdem bekannt wurde, dass der Wahlkampf vom April mit Drogengeldern finanziert worden war, machte der Präsident anlässlich einer Japanreise von seiner zweiten Staatsbürgerschaft Gebrauch und kehrte nicht mehr nach Peru zurück. Die Regierung in Tokio gewährt Fujimori bis heute ihren Schutz.
Präsidentenberater Montesinos war zwischenzeitlich untergetaucht. Nach neun Monaten auf der Flucht, gelang es schließlich, ihn am 25. September 2001 in Venezuela zu fassen und zurück nach Peru zu bringen. Im Hochsicherheitsgefängnis vor der Küste von Lima, das Montesinos selbst als ausbruchsicheren Ort für gefasste Guerillaführer konzipiert hat, teilt er nun einen Zellentrakt mit dem ehemaligen Führer des "Leuchtenden Pfades", Abimael Guzman, und drei Köpfen der "Revolutionären Bewegung Tupac Amaru" (MRTA).

Nachdem Fujimori von Japan aus per Fax seinen Rücktritt erklärt hatte, trat am 22. November 2000 der erst sechs Tage zuvor zum Kongresspräsidenten gewählte Oppositionsabgeordnete Valentín Paniagua sein Amt als Übergangspräsident des Andenstaates an. Zu diesem Zeitpunkt ahnte sicherlich niemand, wie wichtig der 64jährige integere Rechtsprofessor für die Redemokratisierung des Landes werden würde.
Doch auch das neue Kabinett konnte sich sehen lassen. Präsident Paniagua ernannte den 80jährigen früheren UNO-Generalsekretär Javier Pérez de Cuéllar zum Ministerpräsidenten, den parteilosen Juristen Diego García Sayán zum Justizminister und den ebenfalls integren früheren Polizeigeneral Ketín Vidal zum Innenminister.
Die Regierung Paniagua sollte in erster Linie freie Neuwahlen organisieren und das Land verwalten, doch in den acht Monaten ihrer Amtsperiode legte die Übergangsregierung weit darüber hinaus ein erstaunliches Tempo bei der Redemokratisierung des Landes vor und übertraf alle Erwartungen.
Noch am selben Tag, als er sein Kabinett vorstellte, versetzte Paniagua den Oberbefehlshaber der Streitkräfte und alle zwölf aktiven Generäle von Montesinos' Abschlussjahrgang in den sofortigen Ruhestand. Generalstabschef Villanueva Ruesta sowie fünf weitere Armeegeneräle wurden unter dem Verdacht der Korruption und des Waffenschmuggels inhaftiert.
Im weiteren Verlauf der Reorganisation der mit Montesinos' Anhängern durchsetzten Streitkräfte wurden fünfzig Generäle des Heeres, zwanzig hohe Marineoffiziere und vierzehn Generäle der Luftwaffe vorzeitig in den Ruhestand geschickt. Drei ehemalige Vorsitzende des Oberkommandos der Streitkräfte befinden sich in Haft. Ihnen wird vor zivilen Strafgerichten der Prozess gemacht. Auch über hundert Polizeioffiziere wurden entlassen. Gegen die Mehrzahl wird jetzt wegen verbrecherischer Machenschaften ermittelt.
Der Geheimdienst SIN wurde aufgelöst.

Die Säuberung der Wahlbehörde ONPE von den Überresten des Fujimori-Regimes verlief in Rekordzeit. So wurden u.a. die führenden Leute der ONPE abgesetzt und durch integere Personen ersetzt. Der ehemalige Leiter wurde wegen Wahlfälschung anlässlich der umstrittenen Wiederwahl Fujimoris im Jahr 2000 inhaftiert. Fernando Tuesta Soldevilla, der neue Behördenchef, tauschte in einigen Abteilungen bis zu 80% des Personals aus und organisierte innerhalb eines halben Jahres zwei von internationalen WahlbeobachterInnen als vorbildlich eingeschätzte Wahlgänge.
Die Übergangsregierung griff auch bei allen anderen zentralen Verwaltungsbehörden durch. So wurden ebenfalls die führenden Leute der nationalen Steuerbehörde oder des statistischen Landesamtes abgesetzt und gegen unbelastete MitarbeiterInnen ausgetauscht.

Diego García Sayán führte als Justizminister mit seinem Ministerium kompromisslos den Kampf gegen die Korruption. Er unterstützte den Sonderankläger José Ugaz, der mit der gerichtlichen Verfolgung von Vladimiro Montesinos, Alberto Fujimori und ihrer Seilschaft beauftragt ist. Vertraute und Familienmitglieder Montesinos', die von ihm in hohe Positionen gehoben wurden und denen Hehlerei und Geldwäsche von Drogengeldern zur Last gelegt wird, wurden ebenfalls in Haft genommen. Die Interimsregierung verfügte, dass peruanische StaatsanwältInnen heute schon vor der Anklageerhebung die Möglichkeit erhalten, das Bankgeheimnis von Verdächtigen aufzuheben, Konten zu überprüfen und Ausreisesperren zu verhängen.
Mit der Wiedereinsetzung der von Fujimori suspendierten Verfassungsrichter war ein erster entscheidender Schritt zur Wiederherstellung der Unabhängigkeit der Justiz getan. Im Mai 2001 führte eine Welle von Amtsenthebungen zur Erneuerung der peruanischen Gerichtslandschaft. Der Vorsitzende des Obersten Gerichtshofes und 25 weitere Justizbeamte, darunter RichterInnen und StaatsanwältInnen, wurden ihrer Ämter enthoben. Die Mehrheit von ihnen standen in enger Verbindung zu Montesinos. Verhaftet wurde auch die ehemalige Generalstaatsanwältin Blanca Nelida Colán wegen Vertuschung, Meineids und illegaler Bereicherung. Die Sonderstaatsanwaltschaft klagte 43 Richter an, vom Geheimdienst SIN ein Sondergehalt bezogen zu haben dafür, dass ihre Urteile zugunsten der Regierung Fujimoris ausfielen. Der Nationale Rat der JuristInnen sorgte für die Amtsenthebungen und sieht dies als den Beginn einer Kampagne zur Förderung der Moral im Justizwesen. Nachdem auf den erwähnten Videofilmen ein großer Teil der entlassenen JuristInnen bei Geheimtreffen mit Montesinos zu sehen war, hatte ihnen der Rat das Vertrauen entzogen. Außer dem Präsidenten des Obersten Gerichtshofes schieden auch der Leiter der Justizkontrollstelle, wie auch die Justizsprecher aus ihren Ämtern. Nur sechs der hohen Richter blieben im Amt.

Ähnlich erfolgreich agierte der Innenminister und integre frühere Polizeigeneral Ketín Vidal, der Montesinos in Venezuela aufspürte und nach Peru bringen ließ.
Insgesamt sind gegen mehr als sechshundert Anhänger und Vertraute des Fujimori-Regimes Untersuchungen eingeleitet worden. Dutzende von Angeklagten, unter ihnen zwanzig ehemalige Minister, eine Reihe von Spitzenpolitikern, Medienmachern und Richtern, befinden sich im Gefängnis.
Auch gegen Fujimori selbst wurde in Abwesenheit Anklage erhoben; zunächst wegen Amtsflucht, später wegen Betrug beim Kauf unbrauchbarer Waffen aus Staatsvermögen und schließlich auch wegen Mordes, schwerer Körperverletzung und "Verschwindenlassen" von Menschen.

Peru unterstellte sich wieder der Gerichtsbarkeit des Interamerikanischen Gerichtshofes für Menschenrechte (CIDH), die die Regierung Fujimori 1999 wegen der großen Zahl der gegen Peru anhängigen Verfahren aufgekündigt hatte. Die Übergangsregierung erkannte die Zuständigkeit des CIDH im Fall "Barrios Altos" vollständig an. Im Stadtteil Barrios Altos hatten 1991 Mitglieder der Todesschwadron "La Colina" das Fest einer Nachbarschaftsorganisation überfallen, 15 Gäste erschossen und weitere schwer verletzt. Die Untersuchung des Vorfalls wurde 1995 durch die Verabschiedung des Amnestiegesetzes abgebrochen. Menschenrechtsorganisationen jedoch brachten die Verbrechen vor den CIDH, bis sich das Regime 1999 der interamerikanischen Gerichtsbarkeit entzog. Die nun möglich gewordene Neueröffnung des Verfahrens vor dem CIDH führte zu einem erstaunlichen Entscheid. Der CIDH erklärte am 14. März 2001:
"Die Amnestiegesetze führen zur endlosen Weiterführung der Straflosigkeit. Die gesamte Gesetzgebung der Mitgliedstaaten muss jedoch mit den Prinzipien und Vorschriften der amerikanischen Konvention der Menschenrechte übereinstimmen. Daher sind alle Vorschriften, die das Verjähren solcher Verbrechen ermöglichen sollen – und Vorschriften, die die Verantwortung für die Verbrechen vermindern oder ganz ausschließen, wenn es sich um Menschenrechtsverletzungen wie Folter, außergerichtliche Hinrichtungen oder Massenhinrichtungen und 'Verschwindenlassen' handelt, unwirksam. Die Amnestiegesetze können gerichtliche Prozesse in anderen Fällen in Peru, bei denen es sich auch um Verletzungen von Menschenrechten handelt, die in der Konvention enthalten sind, nicht verhindern. [...] Als Konsequenz der Verabschiedung der Amnestiegesetze Nr. 26479 und Nr. 26492 wurden folgende Rechte der Angehörige der Ermordeten und der überlebenden Opfern verletzt: die Rechtssicherheit, Rechtsschutz und rechtliches Gehör und die Wahrheit zu erfahren. Da die Amnestiegesetze mit der Konvention nicht vereinbar sind, hat der peruanische Staat die Konvention nicht eingehalten. Die Amnestiegesetze haben keine juristischen Konsequenzen. Der peruanische Staat muss die Untersuchung des Falles 'Barrios Altos' durchführen, um die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen zu können. Die Ergebnisse dieser Untersuchung sollen veröffentlicht werden. Die Entschädigung der Opfer und deren Angehörigen soll nach einer Vereinbarung aller Prozessparteien stattfinden."
Keine zwei Wochen später ordnete der Oberste Gerichtshof Perus den Vollzug des Urteils an, die Ermittlungen gegen die verdächtigen Militärs begannen, und am 10. Mai wurde das Amnestiegesetz für den konkreten Fall aufgehoben.

Noch kurz vor den Wahlen setzte die Übergangsregierung zur Aufklärung der Menschenrechtsverletzungen eine Wahrheitskommission ein. Diese soll die Menschenrechtsverbrechen in der Zeit von 1980 bis zum Jahr 2000 untersuchen, d.h. der Regierungen Fernando Belaunde, Alan García und Alberto Fujimori. Darüber hinaus hat sie den Auftrag, sich den gesellschaftlichen Ursachen des bewaffneten Guerillakonfliktes zuzuwenden, die Entschädigungsfrage der Opfer zu klären und programmatische Konzeptionen zur weiteren Demokratisierung des Landes auszuarbeiten. Der Abschlussbericht der Wahrheitskommission wird im März 2003 der peruanischen Regierung und der Öffentlichkeit übergeben werden. Die Exekutive ist gehalten, die Empfehlungen der Wahrheitskommission zu übernehmen.

Im Sommer 2001 gewann Alejandro Toledo Manriuque die Präsidentschaftswahl. Nach seinem Amtsantritt setzte er den von der Übergangsregierung eingeschlagenen Kurs fort.
In seiner Antrittsrede erklärte Toledo die Bekämpfung der Armut zum Hauptziel seiner Amtszeit. Darüber hinaus wolle er sich für die weitere Demokratisierung des Landes und für die Aufklärung der Menschenrechtsverletzungen mit Hilfe der Wahrheitskommission einsetzen. Er versprach die Wiedereinführung der Gewaltenteilung und kündigte die Umstrukturierung und personelle Reduzierung der Armee an.
"Wir übernehmen ein Land mit einem tiefen Wunsch nach Gerechtigkeit", erklärte der soeben ins Amt eingeführte Präsident, "auf institutioneller Ebene werden wir dem mit der Wahrheitskommission auf den Grund gehen."
Toledo fordert seither die Auslieferung Fujimoris aus Japan und begann mit der Entschädigung der Opfer von "Barrios Altos" in Höhe von 3,3 Mio US-Dollar. Aus beschlagnahmten Korruptionsgeldern soll ein Entschädigungsfonds für sämtliche Opfer von Menschenrechtsverletzungen angelegt werden.
Sieben Mitglieder der Todesschwadron "La Colina" wurden bis Ende August verhaftet. Im Oktober schließlich schaffte der Oberste Gerichtshof die Amnestiegesetze grundsätzlich ab.
Präsident Toledo entschuldigte sich öffentlich im Namen des peruanischen Staates bei den unschuldig Inhaftierten für die Jahre, die sie unter dem Regime Fujimoris, aber auch der anderen Regierungen, im Gefängnis zubringen mussten. Er kündigte die Überprüfung weiterer Fälle an.

Nach einigen Verzögerungen nahm die Wahrheitskommission zum Jahresende ihre Arbeit auf. Sie wurde um fünf zusätzliche Mitglieder – darunter zwei hochrangige VertreterInnen von Menschenrechtsorganisationen – erweitert und für 2002 mit einem Budget von sechs Millionen US-Dollar ausgestattet. Die zwölfköpfige Kommission unterhält bislang vier Regional- und 14 Lokalbüros und 150 MitarbeiterInnen.
Das Büro des staatlichen Ombudsmannes veröffentlichte einen Bericht über die "Verschwundenen". Danach wurden zwischen 1980 und 1996 6.362 Menschen von staatlichen Sicherheitskräften entführt. Der Bericht wurde der Wahrheitskommission übergeben.

In Peru hat ein vielversprechender Prozess der Aufarbeitung tiefgreifenden institutionell verankerten Unrechts begonnen, der innerhalb kürzester Zeit Dimensionen erreicht hat, von denen Menschenrechtsorganisationen in den Nachbarländern kaum zu träumen wagen. Zunächst scheint er glaubhaft gewollt. Es bleibt zu hoffen, dass die Regierung Toledo den einmal eingeschlagenen Kurs auch bei stärker werdendem Gegenwind noch zu halten vermag.


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Eine Justiz im Exil
Teil 4: Die juristische Aufarbeitung von Menschenrechtsverbrechen in Guatemala

Mit dem Friedensabkommen von 1996 leiteten die guatemaltekischen Verhandlungsparteien auch den Prozess der Aufarbeitung von Menschenrechtsverbrechen im Rahmen des über 36 Jahre andauernden Krieges ein. Eine Wahrheitskommission begann sieben Monate später ihre Arbeit. Bereits ab 1995 arbeitete das kirchliche Projekt REMHI systematisch die Vergangenheit auf. Doch wer in Guatemala für die Menschenrechte kämpft, muss weiter um sein Leben fürchten. Die Justiz urteilt und flüchtet ins Exil.

Die Augen der Begrabenen

Gaspar Ilóm wurde zweimal erschaffen. Mit den Worten "Der Tanz geht los!" ließ der guatemaltekische Literatur-Nobelpreisträger Miguel Angel Asturias seine Romangestalt 1949 zum Gewehr greifen. "Man muß die Erde Ilóms säubern von den Baumfällern und Waldbrennern, von denen, die das Wasser der Flüsse anhalten – Wasser, das schlummert, solange es fließt, aber die Augen aufschlägt, wenn es sich in den Tümpeln staut und vor Verlangen nach Schlaf zu faulen beginnt [...]. Entweder findet die Erde, [...] noch einen Ort, wo sie weiterträumen kann, oder es endet damit, daß die mich in ewigen Schlaf versenken", ließ Asturias den Indigenaführer sprechen. Die Romangestalt Gaspar Ilóm überlebte in der Phantasie des Autors nicht. Wie viele andere "Maismenschen" starb er im Kampf gegen die Unterdrückung seines Volkes durch jene, die das Land verbrannten, um Anbauflächen für die Agraroligarchie und die internationalen Fruchtkonzerne zu roden.
Die Ursachen für den Aufstand – ungerechte Landverteilung, Unterdrückung, die Ausbeutung der indigenen Bevölkerung –, sie blieben bestehen, nicht nur im Roman. Nach Revolution, Staatsstreich, US-Intervention und 30 Jahren Bürgerkrieg führte fast ein halbes Jahrhundert später ein anderer "Gaspar Ilóm", der Sohn des Dichters und einer der Anführer des guatemaltekischen Guerillaverbandes URNG, Verhandlungen mit der Regierung um ein Reihe von Abkommen für einen Waffenstillstand. Als am 29. Dezember 1996 der endgültige Friedensvertrag unterzeichnet wurde, war Rodrigo Asturias – alias "Comandante Gaspar Ilóm" – persönlich zwar nicht zugegen, das Ende des Krieges trägt jedoch entscheidend auch seine Handschrift, speziell in den Menschenrechtsabkommen von 1994.
"Einer der Hauptfaktoren für die vielen Menschenrechtsverletzungen ist die Straflosigkeit der Täter", erklärte Comandante Gaspar noch im Laufe des Verhandlungsprozesses. "Deshalb müssen Initiativen ergriffen werden, um diese zu beenden und in Zukunft zu unterbinden. Man kann nicht dabei stehenbleiben. Es ist auch notwendig, dass die historische Wahrheit aufgeklärt wird." Asturias warnte jedoch zugleich auch vor überzogenen Erwartungen. "Es gibt diese irrige Auffassung, dass das Ergebnis einer Verhandlung gleich die Unterzeichnung der Utopie sein muss."
So war die Unterzeichnung des Abkommens wieder nicht der Tag, an dem "die Diktatur und die Fruchtgesellschaft gleichzeitig bezwungen waren, und die Toten, die Begrabenen, die auf den Tag des Gerichts gewartet hatten, endlich die Augen schließen konnten", wie ihn sich Vater Asturias im letzten Band seiner Bananentrilogie bereits für die guatemaltekische Revolution von 1944 erträumt hatte. Denn auch der Dichter wusste es längst selbst: "Nein, noch nicht, sie standen ja erst an der verheißungsvollen Schwelle dieses großen Tages. Die Hoffnung beginnt nicht mit dem, was vollendet ist, sondern mit dem, was gesagt wird." Und was das Abkommen zu Menschenrechten 50 Jahre später zu sagen hatte, war selbst bei SkeptikerInnen geeignet, zarte Hoffnungen zu wecken. Illusionen jedoch schürte es nicht.

Frieden ist mehr als die Abwesenheit von Krieg

Bei den 1990 aufgenommenen formalen Verhandlungen hatten Regierung und Guerilla zunächst ein Rahmenabkommen und später zehn Teilabkommen und operative Übereinkünfte mit mehr als 300 Einzelvereinbarungen abgeschlossen, die grundlegender Bestandteil des endgültigen Friedensvertrages wurden.
Neben einem umfassenden Abkommen über Menschenrechte, wurden die Wiederansiedlung der Flüchtlinge, die Identität und die Rechte der indigenen Völker, aber auch soziale und ökonomische Aspekte sowie die Agrarfrage vertraglich geregelt. Mit dem Abkommen über Verfassungs- und Wahlrechtsreformen und dem Abkommen über die Stärkung der zivilen Politik und über die Rolle der Armee in einer demokratischen Gesellschaft wurde die Entmilitarisierung und Reformierung des sozialen und politischen Lebens beschlossen. Hierzu gehörten im Einzelnen Regelungen zur Verkleinerung der Armee um ein Drittel, auf 30.000 Soldaten, sowie deren ausdrückliche Beschränkung auf die Landesverteidigung. Parallel sollte ein ziviler Polizeiapparat aufgebaut und erstmals einer demokratischen Ausbildung unterzogen werden, einschließlich eines speziellen Menschenrechtsunterrichtes. Die Regierung verpflichtete sich, Todesschwadronen ebenso zu demobilisieren, wie die berüchtigten "Patrouillen zur zivilen Selbstverteidigung" (PAC). Auch sieht das Abkommen eine Reihe von Reformen und Empfehlungen zum Umbau des Justizsystems, die Modernisierung der öffentlichen Verwaltung und den Aufbau eines "legitimierten Parlaments" vor. Das Abkommen über einen endgültigen Waffenstillstand und die Basiserklärung über die rechtliche Eingliederung der URNG ins politische Leben regelte die Demobilisierung der rund 3.000 GuerillakämpferInnen, einschließlich der Legalisierung der URNG als politische Partei. Vereinbart wurde auch ein exakter Zeitplan zur Umsetzung, Erfüllung und Überwachung des Friedensabkommens. Die Umsetzung der insgesamt 300 Einzelverpflichtungen wird von acht jeweils paritätisch besetzten Kommissionen und von den Vereinten Nationen überwacht.
Zentraler Bestandteil des Friedensvertrages ist das Abkommen über die Einsetzung einer Wahrheitskommission zur Überprüfung von Menschenrechtsverletzungen.

Fast sechs Jahre später versinkt Guatemala heute erneut in Rechtlosigkeit und Terror. Nur der geringste Teil der Vereinbarungen wurde erfüllt. Dies betraf vor allem die Demobilisierung der Guerilla und ihre Überführung in eine politische Partei, den Aufbau einer Zivilpolizei und die Einsetzung einer Wahrheitskommission.
Unter den massiven Drohungen und Übergriffen von Todesschwadronen scheiterte 1999 ein Referendum über ein Paket von Verfassungsänderungen, die einen Teil der Vereinbarungen des Friedensvertrages umsetzen und absichern und darüber zu einer Demokratisierung beitragen sollten. Die Beteiligung an der Abstimmung lag infolge des Terrors bei nur 18,4 Prozent. Die wichtigsten Elemente des Paketes betrafen die Festschreibung von Rechten der rund 6 Millionen Maya in Guatemala. Ihre Kultur, ihre Sprachen und ihre traditionelle Gerichtsbarkeit sollten verfassungsrechtlich anerkannt werden. Außerdem sollte die Präsidentengarde aufgelöst und die ausschließliche Zuständigkeit der zivilen Polizei für die innere Sicherheit garantiert werden. Auch eine Reform des Justizwesens umfasste das Paket. Doch nichts wurde realisiert.
JournalistInnen, Mitglieder von Menschenrechtsorganisationen, AnwältInnen und RichterInnen, die gegen die Verbrechen der Diktatur vorgehen, sie alle stehen heute ebenso wie Gewerkschaftsleute, AktivistInnen linker Parteien und Basisorganisationen erneut auf den Abschusslisten von Todesschwadronen.
Doch allen Drohungen und Einschüchterungsversuchen zum Trotz, ungeachtet der Überfälle, Entführungen und Attentate durch paramilitärische Killerkommandos wird der Kampf gegen die Straflosigkeit unermüdlich fortgesetzt. Und gerade angesichts der unveränderten Macht des Militärs und seiner zivilen Erfüllungsgehilfen, sind die Anstrengungen, die von Menschenrechtsgruppen unternommen wurden, und die kleinen Erfolge, die trotz alledem in den letzten sechs Jahren erzielt werden konnten, beachtlich.

Erinnerung an das Schweigen

Im Sommer 1997 nahm die guatemaltekische Wahrheitskommission CEH unter der Leitung des deutschen Völkerrechtlers Prof. Dr. Christian Tomuschat ihre Arbeit auf. Der CEH (Comisión de Esclarecimiento Histórico) waren von Beginn an enge Grenzen gesetzt. Mit dem Gesetz zur nationalen Versöhnung hatte das Parlament ein halbes Jahr zuvor eine Generalamnestie für alle "im Zuge des Konflikts" begangenen Menschenrechtsverletzungen erlassen. Zugleich war es der CEH untersagt, in ihrem Bericht "Erinnerung an das Schweigen" Verantwortliche namentlich zu benennen. Der Bericht selbst darf für Strafverfahren nicht als Beweismaterial genutzt werden.
Dennoch verstand es die CEH, die verbliebenen Spielräume maximal zu nutzen. Es gelang ihr, die Verbrechen in einer Weise Verstößen gegen internationale Menschenrechtsabkommen zuzuordnen, die sie nicht länger unter das Amnestiegesetz fallen ließ. So wurden z.B. die Massaker an der indigenen Bevölkerung erstmals eindeutig als Völkermord klassifiziert. Völkermord und Folter werden nach Ansicht von Prof. Tomuschat jedoch nicht durch die Amnestie gedeckt.
Der Bericht beziffert die Zahl der Ermordeten und der "Verschwundenen" zwischen 1962 und 1996 auf mehr als 200.000 und dokumentiert 669 Massaker, von denen 626 durch Staatsorgane verübt wurden. Die akribische Beweiserhebung und die detaillierte Dokumentation von Zeit- und Ortsangaben sowie die Benennung von verantwortlichen Institutionen und Stellen erlauben den mühelosen Rückschluss auf die Namen der Täter, obgleich der Bericht diese nicht explizit nennt.
Darüber hinaus analysierte CEH die gesellschaftlichen Ursachen, die zum Ausbruch des bewaffneten Aufstandes geführt haben, einschließlich ihrer sozioökonomischen Faktoren, und leitete Empfehlungen für eine Umgestaltung der guatemaltekischen Gesellschaft ab, die zu einer langfristigen Demokratisierung des Landes unerlässlich ist.
"Die Gesellschaft soll sich klar machen, welche Fehler sie begangen hat, weshalb man den Respekt vor dem menschlichen Leben verloren hat", kommentierte Prof. Tomuschat den Bericht. Sonst könne "das morgen genauso weitergehen, zumal sich die gesellschaftlichen Verhältnisse nicht geändert haben."
Die von der CEH empfohlenen Maßnahmen umfassen daher in sechs Paketen das Gedenken an die Opfer, die Entschädigungsfrage, die Schaffung einer Kultur des gegenseitigen Respekts und der Achtung der Menschenrechte, den Demokratisierungsprozess, die Förderung des Friedens und die Etablierung einer Überwachungskommission zur Umsetzung der insgesamt 84 Empfehlungen. Zu diesen zählen u.a. einschneidende Beschränkungen staatlicher und militärischer Macht, wie z.B. die Auflösung des militärischen Geheimdienstes und des Generalstabs des Präsidenten, die Einsetzung einer neuen Militärdoktrin unter Beschränkung der Aufgaben der Armee auf die Landesverteidigung, die Trennung von Militär und Polizei und die Einführung eines Zivildienstes. Guatemala solle als multiethnische Nation die Rechte der indigenen Bevölkerung garantieren und Rassismus über strukturelle Reformen von Rechts- und Bildungssystem bekämpfen. Doch weder die Regierung Arzu, noch Nachfolger Portillo hatten jemals die ernsthafte Absicht, diese Empfehlungen umzusetzen.

Wiedergewinnung der historischen Erinnerung

Aber nicht nur die CEH arbeitete an der Aufklärung der Verbrechen. Bereits 1995 hatte das Menschenrechtsbüro der katholischen Kirche sein Projekt zur Wiedergewinnung der historischen Erinnerung, REHMI (Recuperación de la Memoria Histórica), begonnen. REHMI steht für eine Wahrheitssuche "von unten", die neben der Beweisaufnahme auch das kollektive Gedächtnis in den Basisgemeinden zu stärken versucht. Die Ergebnisse der von speziell geschulten InterviewerInnen geführten Gespräche wurden in die Gemeinden zurückgetragen und mit der Erarbeitung von Forderungen verknüpft, die die Opfer selbst als maßgeblich für Versöhnung ansehen. REHMI verzichtete nicht darauf, die Namen von Tätern zu nennen.
Zwei Tage, nachdem Weihbischof Gerardi den Abschlussbericht von REHMI öffentlich vorgestellt hatte, wurde er am 26. April 1998 erschlagen. Die Untersuchung des Mordes, wie auch der nachfolgende Prozess gegen die Täter, spiegeln nicht nur die Versuche staatlicher Vertuschung wider, sie zeigen auch, dass der Kampf gegen die Straflosigkeit für MenschenrechtlerInnen in Guatemala heute abermals zum Kampf auf Leben und Tod geworden ist.

Eine Justiz im Exil

So präsentierte das Innenministerium vier Tage nach dem Mord an Bischof Gerardi zunächst einen 24jährigen Alkoholiker als Hauptverdächtigen und Einzeltäter. Dieser sei von einem Straßenkind bei der Tat beobachtet und später auf einem Phantombild wiedererkannt worden. "Wer dies einen politischen Mord" nenne, so Innenminister Mendoza, verbreite "unbegründete Spekulationen und Vermutungen". Ein Bekennerschreiben der Todesschwadron "Rächender Jaguar" vom 27. April, in dem gleichzeitig ein Bürgermeisterkandidat der URNG bedroht wurde, sprach jedoch eine gegenteilige Sprache. "Wir schicken Dir ein wenig von dem Blut von Weihbischof Gerardi, den wir Sonntag nacht umgebracht haben. Alle Kandidaten von FDNG und URNG werden sterben", drohte der Rächende Jaguar.
Auch PolizeiexpertInnen meldeten Zweifel an. Der vom Innenminister präsentierte "Verdächtige" sei über einen Kopf kleiner als der ermordete Bischof. Außerdem sei sein rechter Arm verkrüppelt, mit dem der wirkliche Täter gemäß Autopsiebefund jedoch zugeschlagen haben musste. Darüber hinaus hatte er ein Alibi für die Tatnacht. Weit weg vom Pfarrhaus Gerardis hatte er mit zwei Freunden gezecht und schlief, nach Angaben der Wirtin, bis zum Morgen in der Kantine. Trotzdem wurde er für drei Monate in Haft gehalten.
Als schließlich erste Spuren für eine Tatbeteiligung des Priesters Mario Orantes sprachen und zu seiner Verhaftung führten, wurde ein Mord aus Eifersucht vorgeschoben. Gerüchte über eine gemeinsame Geliebte mit Bischof Gerardi bzw. eine homosexuelle Beziehung zwischen den beiden Priestern wurden lanciert, ebenso wie über ein Verhältnis zwischen Orantes und einem Soldaten, das Gerardi entdeckt habe. Orantes sollte möglichst schnell abgeurteilt werden, ohne hinter seine wirklichen Beweggründe zu blicken. Als Beweis für die Täterschaft sollten Spuren von Hundebissen an der Leiche Gerardis dienen, die von einem Gerichtsmediziner auf einem der Fotos erkannt worden seien. Der Hund des Priesters Orantes war jedoch schwer krank und konnte sich ohne Hilfe nicht aufrichten. "Wir habe ihm in die Geschlechtsteile getreten, um seine Aggressivität zu testen", gab ein Ermittler gegenüber der Presse an. "Er hat nicht einmal gebellt." Dennoch wurde Gerardis Leiche exhumiert und untersucht. Es fanden sich keine Hundebisse.
Das Menschenrechtsbüro des Erzbistums glaubte von Anfang an an einen politisch motivierten Mord und ermittelte selbst. Die Spur führte zu zwei weiteren Männern als möglichen Tatbeteiligten: dem ehemaligen Oberst Disrael Lima Estrada und seinem Sohn Capitan Byron Lima Oliva, Mitglied der Präsidentengarde, gegen die jedoch mehr als anderthalb Jahre lang keine Anklage erhoben wurde. Der Anwalt der Militärs lenkte die Verdächtigungen gegen den Schatzkanzler des Erzbistums. Dieser sei Komplize einer Bande, die Kunstraub in Kirchen betreibe. Gerardi habe dies herausgefunden. Andere "Ermittlungen" bezichtigten den Direktor des Menschenrechtsbüros des Erzbistums als Drahtzieher. Der Anwalt des anfänglich verdächtigten Alkoholikers verkündete, Gerardi habe sich mit dem Direktor über die Verteilung der "Millionen aus dem Ausland" gestritten, die das Büro regelmäßig erhalte.
Ein knappes Jahr verstrich, ohne dass der Untersuchungsrichter Beweise für eines der unterstellten Motive, weder für das "Leidenschaftsdrama", noch den "Kunstraub" oder gar den "Streit um Auslandsgelder" vorgelegt hätte. Auf Drängen des Erzbischofs wurde er abgelöst und Richter Henry Monroy mit dem Fall beauftragt.
Monroy schickte die Untersuchungshäftlinge nach Hause. Ein Taxifahrer hatte zu Protokoll gegeben, er habe am Tatort ein Militärfahrzeug beobachtet. Nach einer Serie von Morddrohungen flüchteten Zeuge und Untersuchungsrichter nach Kanada ins Exil. Ihnen folgte ein weiterer Zeuge, ein Unteroffizier, der in einem Club des Generalstabs erfahren hatte, dass vier Personen unter der Leitung des Sicherheitschefs in der Tatnacht die Residenz Gerardis überwacht hätten. Staatsanwalt Otto Ardon schickte Blutproben verdächtiger Offiziere an Speziallabors des FBI, welches sechs Proben der Tat zuordnete. Danach musste Ardon in die USA fliehen.
Viele andere Prozessbeteiligte berichteten von Drohungen und ergriffen die Flucht. Neun Augenzeugen des Verbrechens bezahlten ihre Aussage mit dem Leben.
Ardons Nachfolger, Staatsanwalt Celvin Galindo, trug weitere Beweise zusammen und erhob im September 1999 Anklage. Einen Monat später erhielt er, nach Todesdrohungen gegen seine Kinder, in Deutschland politisches Asyl.
Im Haus der vorsitzenden Richterin Yasmín Barrios, die das Verfahren nach einer Unterbrechung im März 2001 wieder eröffnete, explodierte eine Granate. Barrios, die zugleich auch Vorsitzende des Verfassungsgerichtes war, erhielt weitere Drohungen und wurde von einem Militärhubschrauber verfolgt, bis sie schließlich kurz vor der Urteilsverkündung das Land verließ.
Am 8. Juni 2001 verkündete ihr Nachfolger schließlich unter massiven Todesdrohungen das Urteil. Das Gericht befand einstimmig drei hohe Militärs für schuldig, als Co-Autoren an dem Mordkomplott beteiligt gewesen zu sein. Unter ihnen befanden sich jene Militärs, auf deren Spur die Ermittlungen des kirchlichen Menschenrechtsbüros geführt hatten, sowie Obdulio Villanueva, ein ehemaliger Chef des Geheimdienstes. Sie wurden zu 30 Jahren Haft verurteilt. 20 Jahre erhielt der Priester Orantes wegen Komplizenschaft. Die Haushälterin von Bischof Gerardi wurde freigesprochen.
Die Urteile schlossen einen Straferlass explizit aus. Die drei Richter, die ausdrücklich politische Motive als Beweggründe für den Mord betonten, ordneten die zusätzliche Eröffnung eines Prozesses gegen 13 weitere mutmaßlich Tatbeteiligte an. Unter ihnen befindet sich auch der Chef der Präsidentengarde, die in der Urteilsbegründung als Institution für den Mord verantwortlich gemacht wird. Die Richter stützten sich dabei auf Aussagen, die einer der Täter, der geständige Hauptmann Byron Lima Oliva im Prozess gemacht hatte. Dieser hatte erklärt: "Das Verbrechen war kein persönliches. Es geht um ein Problem des Generalstabs des Präsidenten, des nationalen Heeres."

Mit dem Mord an Gerardi begann eine bis heute andauernde Kette von Übergriffen. Amnesty International zählte 81 Drohungen gegen Justizangehörige, alleine in der ersten Hälfte des Jahres 2000. Im Folgejahr wurden acht AnwältInnen, RichterInnen und ZeugInnen ermordet und mehrere Büros von Menschenrechtsorganisationen überfallen. Der Entführungsversuch an einer Berichterstatterin von AI scheiterte.
Unmittelbar nach dem Mord an Gerardi warfen Unbekannte Handgranaten in die Wohnung eines Journalisten, der über ein Massaker der Armee aus dem Jahr 1995 recherchiert hatte, und in das Haus von Miguel Angel Albizúrez, der zum Präsidium der Allianz gegen die Straffreiheit gehört. Julio Arango, der staatliche Menschenrechtsbeauftragte, erhielt in diesen Tagen mindestens 40 telefonische Todesdrohungen. Roberto González, der stellvertretende Generalsekretär der linken Oppositionspartei "Demokratische Front Neues Guatemala" (FDNG), wurde von einer Gruppe schwerbewaffneter Männer auf offener Straße erschossen, als er morgens um 8.30 Uhr zusammen mit zehn Parteifreunden sein Haus verließ. Die Todesschwadron habe ohne Vorwarnung das Feuer eröffnet. González wurde von acht Kugeln getroffen und starb nach seiner Einlieferung in ein Krankenhaus. Auch Jorge Soto, Generalsekretär der URNG, berichtete von massiven Drohungen gegen VertreterInnen der ehemaligen Guerilla-Organisation.
Nach Angaben der UN-Verifikationsmission für Menschenrechte in Guatemala (MINUGUA) wurden seit Unterzeichnung des Friedensabkommens 215 Menschen ermordet, die meisten von ihnen nach April 1998. Nur in 3 % der Fälle verhafteten die Behörden Tatverdächtige.
Gleichzeitig versuchen Menschenrechtsorganisationen in Guatemala selbst, weitere Verbrechen zur Anklage zu bringen. Überlebende von Massakern erhoben im Mai 2000 Klage gegen den ehemaligen Diktator Lucas García. Zeitgleich mit der Urteilsverkündung im Fall Gerardi reichten 20 Gemeinden Klage gegen den Ex-Diktator und heutigen Parlamentspräsidenten Ephraim Rios Montt ein. Seine Immunität war im März 2001 wegen eines parlamentarischen Betruges um ein Gesetz zur Festsetzung von Alkoholsteuern aufgehoben worden. Das Gericht hatte die Klage zunächst angenommen, es jedoch nach wenigen Monaten wieder eingestellt.
Auch ein Verfahren gegen drei weitere hohe Militärs, die des Mordes an der Anthropologin Myrna Mack beschuldigt werden, wurde im Oktober 2001 nach sieben Jahren ausgesetzt.
Keiner der für Menschenrechtsverbrechen Verantwortlichen wurde bislang zur Verantwortung gezogen. Die Mehrzahl der Vereinbarungen des Friedensvertrages wurden ebensowenig erfüllt, wie die Empfehlungen der Wahrheitskommission.
Vor diesem Hintergrund reichte die Stiftung der Friedensnobelpreisträgerin Rigoberta Menchú im Dezember 1999 Klage wegen Völkermordes gegen zunächst acht hohe Militärs vor dem Obersten Gerichtshof Spaniens ein, unter ihnen drei ehemalige Staatschefs, ein Verteidigungs- und ein Innenminister, sowie ein Generalstabs- und zwei Polizeichefs. Im Vorfeld einer Anhörung über die Zuständigkeit des spanischen Gerichts im Mai dieses Jahres wurde der Schatzmeister der Stiftung in einem Café erschossen.


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