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Chile in guter Verfassung ?
Erneuter Versuch, einen Schlussstrich unter die Diktaturverbrechen zu ziehen

von Knut Rauchfuss, September 2005


In den Überschriften der internationalen Presse „befreit“ sich Chile derzeit und „bricht mit den Hinterlassenschaften“ des Militärs; da „verabschiedet“ sich die Verfassung des Landes von den „Spuren der Diktatur“ und „löscht das Erbe Pinochets“. Weltweit überschlagen sich KommentatorInnen mit Lob und Zuversicht anlässlich der Verfassungsänderungen, die am 16.August mit breiter Mehrheit die beiden chilenischen Parlamentskammern passierten.
Mitte September soll die neue Verfassung Chiles durch Präsident Lagos unterzeichnet werden – eine Reform, die in der Tat einige längst überfällige Schritte zur Tilgung der autoritären Hinterlassenschaften der Diktatur unternimmt, aber auch keinen Schritt weiter geht, als es zwecks Beibehaltung der Kräfteverhältnisse erforderlich ist.

Insgesamt 58 Änderungen enthält der neue Entwurf gegenüber der 1980 von der Diktatur erlassenen Verfassung. Nur 19 Artikel wurden unverändert übernommen. Und zu Recht loben die Pressekommentare den damit verbundenen Wegfall einiger antidemokratischer Artikel, die den Fortbestand des autoritären Militärregimes auch nach dem formalen Übergang zu einer zivilen Regierung im Jahr 1990 sicherten.
So wird die neue Verfassung jene knapp 20 Prozent der Senatssitze abschaffen, die ohne freie Wahl besetzt wurden. Zu diesen gesetzten Senatoren zählten bislang unter anderen die früheren Kommandeure der Teilstreitkräfte und die früheren Präsidenten, denen nach ihrem Ausscheiden ein Senatorenposten auf Lebenszeit zustand.
Auf diese Weise hatten sich die Machthaber der Militärdiktatur nicht nur über eine Sperrminorität fortdauernden politischen Einfluss verschafft, sondern obendrein ihre Immunität abgesichert, die dazu beitragen sollte, sie vor strafrechtlicher Verfolgung für die zwischen 1973 und 1990 begangenen Verbrechen zu schützen. Die Straffreiheit für die Menschenrechtsverletzungen der ersten fünf Diktaturjahre wurde zusätzlich durch eine bis heute gültige Amnestieregelung garantiert.

Vorsichtige Entmachtung des Militärs

Ab Januar 2006 soll der Senat nun nur noch über 38 gewählte Sitze verfügen. Der Senatorenposten von Ex-Diktator Pinochet ist allerdings schon seit längerer Zeit leer. Er trat sein Amt nur kurzzeitig an, bevor er es taktisch vorzog, sich 2002 der Strafverfolgung durch seinen Rückzug in die geistige Unzurechnungsfähigkeit zu entziehen.
Das Militär selbst wird in Zukunft der zivilen Gerichtsbarkeit unterworfen. Dies könnte vor allem insofern Bedeutung erlangen, als es ehemaligen Militärs bisher vergönnt war, auch bei Verbrechen gegen zivile Opfer unter die Zuständigkeit von ihnen wohl gesonnenen Militärrichtern zu fallen. Die Einstellung der Verfahren war vielfach die Folge, sofern diese überhaupt je eröffnet wurden.
Mit der Verfassungsreform erhält der Präsident einen Teil der Kontrolle über das Militär zurück. Bis dato wurden die Spitzen der Teilstreitkräfte vom Nationalen Sicherheitsrat ernannt oder abgesetzt, dem wiederum die Militärführung selbst angehört. Dies soll in Zukunft wieder über präsidentielle Dekrete möglich werden.
Der Nationale Sicherheitsrat, über den das Militär nach 1990 den Fortbestand seiner Macht über die zivile Politik sicherte, wird zwar nicht abgeschafft, aber in seinen Kompetenzen beschnitten. Konnte er bislang noch den Präsidenten vorladen und mit der Mehrheit des Militärs über die Verhängung des Ausnahmezustandes entscheiden, so wird er über die neue Verfassung auf den Status einer Beratungsinstitution zurückgestuft, die nicht länger durch die Kommandierenden der Streitkräfte einberufen werden darf.

Mehrere neue Artikel betreffen auch eine Reform der zivilen staatlichen Strukturen. So begrenzt die neue Verfassung die präsidiale Amtszeit auf vier Jahre und erweitert das passive Wahlrecht für ein Senatsmandat. Erstmals seit dem Militärputsch erhält das Parlament das Recht zur Einsetzung von Untersuchungsausschüssen zurück. Auch die Arbeitsweise und die Zusammensetzung des chilenischen Verfassungsgerichtes werden über die Reform neu geregelt.


Unzweifelhaft stellt die Reform einen wichtigen Schritt in Richtung auf eine weitere Demokratisierung Chiles dar. Welche neuen Spielräume für weitergehende Veränderungen daraus wirklich erwachsen, muss sich allerdings in der Praxis während der kommenden Jahre erst erweisen.
Fünf Jahre hatten die Verhandlungen um die Verfassungsreform gedauert, auf die sich das regierende Bündnis der „Concertación“ mit den rechten Oppositionsparteien verständigen musste, um die erforderlichen Mehrheiten zu erreichen. Das jetzige Ergebnis ist allein insofern schon als kleinster gemeinsamer Nenner der beiden parlamentarischen Lager zu verstehen. Weite Teile der außerparlamentarischen Forderungen an eine demokratische Verfassung blieben unberücksichtigt.
Jede Euphorie, wie sie in den präsidialen Fensterreden zum Ausdruck kommt, verbietet sich daher. Im Gegenteil, wenn Präsident Lagos „das Ende der Übergangsperiode“ von der Diktatur zur Demokratie herbeihalluziniert und verkündet, nun sei „die Verfassung mit Chile wieder in Einklang gebracht worden“, müssen sich all jene alarmiert zeigen, die für den wirklichen Übergang zu einer demokratischen Gesellschaft eintreten,

So wenig Aufarbeitung wie möglich

Folgerichtig protestierten während der Verabschiedung der Reform im Parlament rund 50 Angehörige des Linksbündnisses „Juntos Podemos“ und der kommunistischen Partei für eine weitergehende Verfassungsreform, die die Abschaffung des binominalen Wahlsystems ebenso umfasst, wie die Anerkennung der indigenen Bevölkerung und ihrer Rechte. Auch das in der Verfassung verankerte Wirtschaftsmodell besteht strukturell fort.
„Juntos Podemos“, das bei den Kommunalwahlen im vergangenen Jahr rund neun Prozent der Stimmen erhielt, ist vom binominalen Wahlsystem ebenso negativ betroffen wie die kommunistische Partei, da es den kleineren Parteien den Einzug ins Parlament strukturell verwährt.
Nach diesem System werden in jedem der 60 Wahlkreise des Landes zwei Abgeordnete mit den jeweils höchsten Stimmanteilen gewählt – in der Regel je ein Mandat für Regierung und Opposition. Beide Mandate entfallen dann auf die stärkste Partei, wenn diese mehr als 65 Prozent der Stimmen erhält. Auf diese Weise entsteht im Parlament eine strukturelle Pattsituation zwischen Regierungs- und Oppositionsbündnis, mit nur dünnen Mehrheiten. Kleinere Parteien müssen über lokale Hochburgen verfügen, um überhaupt im Parlament vertreten sein zu können.

"Während die politische Klasse ihre Festlichkeiten beging, hielten wir Schilder in die Höhe, auf denen wir das, was sie da in der Parlamentssitzung feierten, als völlig unzureichend zurückwiesen“, schildert der linke Abgeordnete Efrén Osorio die Proteste. „Da sich die Honoratioren belästigt fühlten, ließen sie uns durch mehr als 100 Polizisten brutal entfernten“, so Osorio, der Chef der Humanistischen Partei ist.
„Selbst wenn sich der Wolf in einen Schafspelz kleidet, bleibt er doch ein Wolf. Auch wenn der Name Pinochet nicht mehr auftaucht, leben wir weiterhin unter einer autoritären, elitären und diktatorischen Verfassung, die ganz klar die Basis eines Gesellschaftssystems der politischen und sozialen Ausgrenzung bildet“, konkretisiert Osorio die Kritik an der Reform, die vor allem die sozialen Basisbewegungen als kosmetische Korrektur unter Fortschreibung des neoliberalen Modells sehen.
Osorio spielt damit auf eine Grundkonstante bisheriger Demokratisierungen in Chile an, mit denen immer gerade so viel Aufarbeitung von Vergangenheit oder Rücknahme obrigkeitsstaatlicher Kontrolle zugelassen wird, wie ohne eine grundsätzliche Infragestellung der ökonomischen und sozialen Erblast der Militärdiktatur möglich ist.

Anlässlich des vom Präsidenten proklamierten „Endes der Übergangsperiode“, fürchten Menschenrechtsorganisationen, dass die Verfassungsreform – wie vorangegangene Schritte zur Aufarbeitung der Vergangenheit auch – erneut eine Debatte um „Normalisierung“ und „Versöhnung“ der chilenischen Gesellschaft und einen damit verbundenen Schlussstrich unter die Vergangenheit nach sich ziehen könnte.
In diesem Licht wirken die Worte des Präsidenten auf all jene, die für eine konsequente Demokratisierung – einschließlich der strafrechtlichen Verfolgung der während der Militärdiktatur begangenen Verbrechen – kämpfen, als offene Drohung.

Neuauflage der Schlussstrich-Debatte befürchtet

Versuche einen Schlussstrich unter die Vergangenheit zu ziehen, hat es in den fünfzehn Jahren seit dem formalen Ende der Militärherrschaft in Chile bereits mehrere gegeben.
Der letzte große Vorstoß der politischen Rechten für einen Schlusspunkt begann im Vorfeld des 30.Jahrestages des Militärputsches. Im Sommer 2003 waren die Verantwortlichen für die Verbrechen der Militärdiktatur erheblich unter Druck geraten. Die Mechanismen, mit denen sie ihre Straffreiheit strukturell sichern wollten, hatten seit 1999 zu bröckeln begonnen.
So war es in den Jahren nach der Verhaftung von Pinochet in London auch in Chile zu einer Fülle von Anzeigen gegen den Ex-Diktator und die übrigen Diktaturschergen gekommen. Während Pinochet selbst, dessen Immunität als Ex-Präsident bis heute in vier Fällen aufgehoben wurde, sich den Strafprozessen noch entziehen konnte, indem er sich für altersschwachsinnig erklären ließ, wurden gegen eine Reihe weiterer Militärs Prozesse eröffnet, Hausarreste verhängt und verschiedentlich auch Inhaftierungen vorgenommen.
Zwar ist das Ergebnis bis heute inakzeptabel gering, die alten Herrschaftseliten der Militärdiktatur fühlten sich jedoch unter einen erheblichen Druck gesetzt. Die Dämme der Straflosigkeit, allen voran die noch zu Diktaturzeiten erlassene Selbstamnestierung des Militärs, waren rissig und für einzelne Anklagen durchlässig geworden, seit MenschenrechtsanwältInnen die Fälle der in Polizeihaft Verschwundenen als noch immer fortdauernde „Entführungsverbrechen“ zur Anzeige brachten.
Seither haben die Verbrecher der Diktatur und ihre politischen UnterstützerInnen immer neue Versuche unternommen, um die Verschwundenen für tot erklären und die Akten schließen zu lassen. Mit falschen Listen über Todeszeitpunkte und -orte, scheinbaren Schuldeingeständnissen über geheime Exhumierungen, öffentlichen Demokratiebekenntnissen und moralischen Verurteilungen von Menschenrechtsverletzungen versuchten sich die Militärs der Anklagen wegen Entführung von Oppositionellen zu entledigen.

Die Nachfolgepartei der Diktatur, UDI, nahm gar direkten Kontakt mit Angehörigen von Verschwundenen auf, um ihnen im Mai 2003 öffentlich staatliche Entschädigungen anzubieten. Gleichzeitig griff UDI auch die Forderungen der ehemaligen politischen Gefangenen nach Haftentschädigung auf. Mit den Entschädigungszahlungen für Überlebende, einer Forderung der sich die Regierung der Concertación stets verschlossen hatte, sollte deren Zustimmung zur endgültigen Straflosigkeit erkauft werden.
So forderte UDI – zeitgleich mit den Entschädigungsangeboten – die Beendigung von Strafprozessen und gerichtlichen Untersuchungsverfahren innerhalb einer festgeschriebenen Zeit. Danach müsse das Gericht entscheiden, ob die Opfer noch am Leben seien und der Tatbestand der Entführung andauere, oder ob vom Tod des Opfers auszugehen sei. In Kombination mit den Selbstbezichtigungen sollte es so ein Leichtes sein, die Verschwundenen für tot erklären zu lassen und damit die Täter wieder in den Genuss der Amnestie zu bringen.

Die unter Zugzwang geratene Regierungskoalition beantwortete den Vorstoß der Rechten und die anlässlich des 30. Jahrestages des Militärputsches im ganzen Land entflammte Debatte über die Diktaturverbrechen nun ihrerseits mit einem Entschädigungsprogramm.
Die von Präsident Lagos einberufene „Nationale Kommission für politische Haft und Folter“ nahm im November 2003 ihre Arbeit auf und legte etwa ein Jahr später ihren  Abschlussbericht vor. Diese allgemein nach ihrem Vorsitzenden benannte „Valech-Kommission“ hatte die Aufgabe, sechs Monate lang Material und Zeugenaussagen zusammenzutragen und auf dieser Basis einen Vorschlag für ein Entschädigungsverfahren zu erarbeiten.
Der „Valech-Bericht“ enthält rund 35.000 Zeugenaussagen ehemaliger politischer Gefangener, die in mehr als 1.100 geheimen Haftzentren landesweit gefoltert wurden. Achtzig Prozent der angehörten ZeugInnen wurden als entschädigungsberechtigt anerkannt. Als Entschädigung erhalten sie nun eine Monatsrente von umgerechnet 195 US-$, Krankenversorgung und ein kostenloses Studium.
Der Bericht wurde veröffentlicht und stellt ein bedeutendes Dokument zur historischen Aufarbeitung der Diktaturverbrechen an politischen Gefangenen dar.

Namen der Täter auf 50 Jahre unter Verschluss

Gleichwohl kritisieren Menschenrechtsorganisationen vehement das begrenzte zeitliche Mandat der Kommission, das es für schätzungsweise ein Drittel der Überlebenden unmöglich machte, ihre Zeugenaussage abzugeben und Entschädigung zu beantragen.
Auch wurden circa 1.000 Kinder, die seinerzeit mit ihren Eltern festgenommen und teilweise vor deren Augen gefoltert worden waren, nicht oder nur indirekt erfasst. Diese Überlebenden haben sich nach Vorlage des „Valech-Berichtes“ zu einer eigenen Organisation zusammengeschlossen, um nun ebenfalls Entschädigung für das Erlittene zu fordern. „Ricardo Lagos tat so, als ob ihn das alles nichts anginge, und gab die Auflösung der Kommission bekannt“, schimpft Ana Córtez von der Organisation der „Ex-Minderjährigen Folteropfer“.
Juana Aguilera Jaramillo, von der "Ethischen Kommission gegen Folter" (CECT), fügt hinzu, dass gerade in der zweiten Hälfte der 80er Jahre Menschenrechtsverletzungen immer seltener im Rahmen formal-regulärer Haftstrafen, sondern zuhause, auf offener Straße oder auch in geheimen Einrichtungen und Polizeiwachen stattfanden. „Diese Überlebenden berücksichtigt der ‚Valech-Bericht’ ebenfalls nicht“, kritisiert sie und fordert eine Ausweitung des Mandats.

Die schärfste Kritik aller Menschenrechtsorganisationen richtet sich jedoch gegen die staatliche Verfügung, dass die der Valech-Kommission bekannt gewordenen Zeugenaussagen anonymisiert wurden und die Namen der Täter auf 50 Jahre geheim gehalten werden. Auf diese Weise ist der Bericht nicht für die strafrechtliche Verfolgung der Verbrechen nutzbar.
Zwar wurde die Entschädigung nicht unmittelbar mit dem von UDI geforderten Schlussstrich unter die Vergangenheit verbunden, die Straflosigkeit dauert jedoch trotz detaillierter Dokumentation der Verbrechen auch 32 Jahre nach dem Militärputsch an.

MenschenrechtsaktivistInnen lassen nicht locker

Je mehr Zeit vergeht, desto weniger Täter werden noch zur Rechenschaft gezogen werden können. Die Regierung Lagos spielt mit diesem Faktor Zeit und hofft auf „Normalisierung“. So attestierte der Präsident der Entschädigungskommission, sie habe „die notwendige Harmonie zwischen der Gesellschaft und ihrem Militär wieder hergestellt“. Die Entschädigungsmaßnahmen dienten dazu „die Wunden zu heilen und nicht, sie wieder zu eröffnen“.
Wer die Aufarbeitung der Vergangenheit aus dieser Perspektive beurteilt, wird auch verfassungsrechtliche Demokratisierungen immer nur so weit voran treiben, wie sie die realen Herrschaftsverhältnisse und die Straflosigkeit der Diktaturverbrechen nicht wirklich in Frage stellen.

Die chilenischen Menschenrechtsorganisationen jedoch lassen nicht locker. Täglich werden neue Klagen vorbereitet, jüngst gegen JournalistInnen, die seinerzeit willfährig die Propagandalügen der Diktatur publizierten.
Und auch Ex-Diktator Pinochet ist noch nicht wirklich sicher. Nach einem längeren Fernsehinterview sowie einer von ihm persönlich verfassten Verteidigungsschrift für seine wegen Steuerhinterziehung verhaftete Ehefrau und seinen Sohn, rufen MenschenrechtsaktivistInnen aus aller Welt den Obersten Gerichtshof Chiles in einer Petition auf, die Verhandlungsfähigkeit des agilen Tyrannen neu zu prüfen.

(veröffentlicht in analyse & kritik, Nr. 498, Sept. 2005)

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