In den Überschriften der internationalen Presse „befreit“ sich Chile derzeit und
„bricht mit den Hinterlassenschaften“ des Militärs; da „verabschiedet“
sich die Verfassung des Landes von den „Spuren der Diktatur“ und „löscht das
Erbe Pinochets“. Weltweit überschlagen sich KommentatorInnen mit Lob und Zuversicht
anlässlich der Verfassungsänderungen, die am 16.August mit breiter Mehrheit die beiden
chilenischen Parlamentskammern passierten.
Mitte September soll die neue Verfassung Chiles durch Präsident Lagos unterzeichnet werden
– eine Reform, die in der Tat einige längst überfällige Schritte zur Tilgung
der autoritären Hinterlassenschaften der Diktatur unternimmt, aber auch keinen Schritt weiter
geht, als es zwecks Beibehaltung der Kräfteverhältnisse erforderlich ist.
Insgesamt 58 Änderungen enthält der neue Entwurf gegenüber der 1980 von der Diktatur
erlassenen Verfassung. Nur 19 Artikel wurden unverändert übernommen. Und zu Recht loben
die Pressekommentare den damit verbundenen Wegfall einiger antidemokratischer Artikel, die den
Fortbestand des autoritären Militärregimes auch nach dem formalen Übergang zu einer
zivilen Regierung im Jahr 1990 sicherten.
So wird die neue Verfassung jene knapp 20 Prozent der Senatssitze abschaffen, die ohne freie Wahl
besetzt wurden. Zu diesen gesetzten Senatoren zählten bislang unter anderen die früheren
Kommandeure der Teilstreitkräfte und die früheren Präsidenten, denen nach ihrem
Ausscheiden ein Senatorenposten auf Lebenszeit zustand.
Auf diese Weise hatten sich die Machthaber der Militärdiktatur nicht nur über eine
Sperrminorität fortdauernden politischen Einfluss verschafft, sondern obendrein ihre
Immunität abgesichert, die dazu beitragen sollte, sie vor strafrechtlicher Verfolgung für
die zwischen 1973 und 1990 begangenen Verbrechen zu schützen. Die Straffreiheit für die
Menschenrechtsverletzungen der ersten fünf Diktaturjahre wurde zusätzlich durch eine bis
heute gültige Amnestieregelung garantiert.
Ab Januar 2006 soll der Senat nun nur noch über 38 gewählte Sitze verfügen. Der
Senatorenposten von Ex-Diktator Pinochet ist allerdings schon seit längerer Zeit leer. Er trat
sein Amt nur kurzzeitig an, bevor er es taktisch vorzog, sich 2002 der Strafverfolgung durch seinen
Rückzug in die geistige Unzurechnungsfähigkeit zu entziehen.
Das Militär selbst wird in Zukunft der zivilen Gerichtsbarkeit unterworfen. Dies könnte
vor allem insofern Bedeutung erlangen, als es ehemaligen Militärs bisher vergönnt war,
auch bei Verbrechen gegen zivile Opfer unter die Zuständigkeit von ihnen wohl gesonnenen
Militärrichtern zu fallen. Die Einstellung der Verfahren war vielfach die Folge, sofern diese
überhaupt je eröffnet wurden.
Mit der Verfassungsreform erhält der Präsident einen Teil der Kontrolle über das
Militär zurück. Bis dato wurden die Spitzen der Teilstreitkräfte vom Nationalen
Sicherheitsrat ernannt oder abgesetzt, dem wiederum die Militärführung selbst
angehört. Dies soll in Zukunft wieder über präsidentielle Dekrete möglich
werden.
Der Nationale Sicherheitsrat, über den das Militär nach 1990 den Fortbestand seiner Macht
über die zivile Politik sicherte, wird zwar nicht abgeschafft, aber in seinen Kompetenzen
beschnitten. Konnte er bislang noch den Präsidenten vorladen und mit der Mehrheit des
Militärs über die Verhängung des Ausnahmezustandes entscheiden, so wird er über
die neue Verfassung auf den Status einer Beratungsinstitution zurückgestuft, die nicht
länger durch die Kommandierenden der Streitkräfte einberufen werden darf.
Mehrere neue Artikel betreffen auch eine Reform der zivilen staatlichen Strukturen. So begrenzt die
neue Verfassung die präsidiale Amtszeit auf vier Jahre und erweitert das passive Wahlrecht
für ein Senatsmandat. Erstmals seit dem Militärputsch erhält das Parlament das Recht
zur Einsetzung von Untersuchungsausschüssen zurück. Auch die Arbeitsweise und die
Zusammensetzung des chilenischen Verfassungsgerichtes werden über die Reform neu geregelt.
Unzweifelhaft stellt die Reform einen wichtigen Schritt in Richtung auf eine weitere
Demokratisierung Chiles dar. Welche neuen Spielräume für weitergehende Veränderungen
daraus wirklich erwachsen, muss sich allerdings in der Praxis während der kommenden Jahre erst
erweisen.
Fünf Jahre hatten die Verhandlungen um die Verfassungsreform gedauert, auf die sich das
regierende Bündnis der „Concertación“ mit den rechten Oppositionsparteien
verständigen musste, um die erforderlichen Mehrheiten zu erreichen. Das jetzige Ergebnis ist
allein insofern schon als kleinster gemeinsamer Nenner der beiden parlamentarischen Lager zu
verstehen. Weite Teile der außerparlamentarischen Forderungen an eine demokratische Verfassung
blieben unberücksichtigt.
Jede Euphorie, wie sie in den präsidialen Fensterreden zum Ausdruck kommt, verbietet sich
daher. Im Gegenteil, wenn Präsident Lagos „das Ende der Übergangsperiode“ von
der Diktatur zur Demokratie herbeihalluziniert und verkündet, nun sei „die Verfassung mit
Chile wieder in Einklang gebracht worden“, müssen sich all jene alarmiert zeigen, die
für den wirklichen Übergang zu einer demokratischen Gesellschaft eintreten,
Folgerichtig protestierten während der Verabschiedung der Reform im Parlament rund 50
Angehörige des Linksbündnisses „Juntos Podemos“ und der kommunistischen Partei
für eine weitergehende Verfassungsreform, die die Abschaffung des binominalen Wahlsystems
ebenso umfasst, wie die Anerkennung der indigenen Bevölkerung und ihrer Rechte. Auch das in der
Verfassung verankerte Wirtschaftsmodell besteht strukturell fort.
„Juntos Podemos“, das bei den Kommunalwahlen im vergangenen Jahr rund neun Prozent der
Stimmen erhielt, ist vom binominalen Wahlsystem ebenso negativ betroffen wie die kommunistische
Partei, da es den kleineren Parteien den Einzug ins Parlament strukturell verwährt.
Nach diesem System werden in jedem der 60 Wahlkreise des Landes zwei Abgeordnete mit den jeweils
höchsten Stimmanteilen gewählt – in der Regel je ein Mandat für Regierung und
Opposition. Beide Mandate entfallen dann auf die stärkste Partei, wenn diese mehr als 65
Prozent der Stimmen erhält. Auf diese Weise entsteht im Parlament eine strukturelle
Pattsituation zwischen Regierungs- und Oppositionsbündnis, mit nur dünnen Mehrheiten.
Kleinere Parteien müssen über lokale Hochburgen verfügen, um überhaupt im
Parlament vertreten sein zu können.
"Während die politische Klasse ihre Festlichkeiten beging, hielten wir Schilder in die
Höhe, auf denen wir das, was sie da in der Parlamentssitzung feierten, als völlig
unzureichend zurückwiesen“, schildert der linke Abgeordnete Efrén Osorio die
Proteste. „Da sich die Honoratioren belästigt fühlten, ließen sie uns durch
mehr als 100 Polizisten brutal entfernten“, so Osorio, der Chef der Humanistischen Partei ist.
„Selbst wenn sich der Wolf in einen Schafspelz kleidet, bleibt er doch ein Wolf. Auch wenn der
Name Pinochet nicht mehr auftaucht, leben wir weiterhin unter einer autoritären, elitären
und diktatorischen Verfassung, die ganz klar die Basis eines Gesellschaftssystems der politischen
und sozialen Ausgrenzung bildet“, konkretisiert Osorio die Kritik an der Reform, die vor allem
die sozialen Basisbewegungen als kosmetische Korrektur unter Fortschreibung des neoliberalen Modells
sehen.
Osorio spielt damit auf eine Grundkonstante bisheriger Demokratisierungen in Chile an, mit denen
immer gerade so viel Aufarbeitung von Vergangenheit oder Rücknahme obrigkeitsstaatlicher
Kontrolle zugelassen wird, wie ohne eine grundsätzliche Infragestellung der ökonomischen
und sozialen Erblast der Militärdiktatur möglich ist.
Anlässlich des vom Präsidenten proklamierten „Endes der
Übergangsperiode“, fürchten Menschenrechtsorganisationen, dass die Verfassungsreform
– wie vorangegangene Schritte zur Aufarbeitung der Vergangenheit auch – erneut eine
Debatte um „Normalisierung“ und „Versöhnung“ der chilenischen
Gesellschaft und einen damit verbundenen Schlussstrich unter die Vergangenheit nach sich ziehen
könnte.
In diesem Licht wirken die Worte des Präsidenten auf all jene, die für eine konsequente
Demokratisierung – einschließlich der strafrechtlichen Verfolgung der während der
Militärdiktatur begangenen Verbrechen – kämpfen, als offene Drohung.
Versuche einen Schlussstrich unter die Vergangenheit zu ziehen, hat es in den fünfzehn Jahren
seit dem formalen Ende der Militärherrschaft in Chile bereits mehrere gegeben.
Der letzte große Vorstoß der politischen Rechten für einen Schlusspunkt begann im
Vorfeld des 30.Jahrestages des Militärputsches. Im Sommer 2003 waren die Verantwortlichen
für die Verbrechen der Militärdiktatur erheblich unter Druck geraten. Die Mechanismen, mit
denen sie ihre Straffreiheit strukturell sichern wollten, hatten seit 1999 zu bröckeln
begonnen.
So war es in den Jahren nach der Verhaftung von Pinochet in London auch in Chile zu einer Fülle
von Anzeigen gegen den Ex-Diktator und die übrigen Diktaturschergen gekommen. Während
Pinochet selbst, dessen Immunität als Ex-Präsident bis heute in vier Fällen
aufgehoben wurde, sich den Strafprozessen noch entziehen konnte, indem er sich für
altersschwachsinnig erklären ließ, wurden gegen eine Reihe weiterer Militärs
Prozesse eröffnet, Hausarreste verhängt und verschiedentlich auch Inhaftierungen
vorgenommen.
Zwar ist das Ergebnis bis heute inakzeptabel gering, die alten Herrschaftseliten der
Militärdiktatur fühlten sich jedoch unter einen erheblichen Druck gesetzt. Die Dämme
der Straflosigkeit, allen voran die noch zu Diktaturzeiten erlassene Selbstamnestierung des
Militärs, waren rissig und für einzelne Anklagen durchlässig geworden, seit
MenschenrechtsanwältInnen die Fälle der in Polizeihaft Verschwundenen als noch immer
fortdauernde „Entführungsverbrechen“ zur Anzeige brachten.
Seither haben die Verbrecher der Diktatur und ihre politischen UnterstützerInnen immer neue
Versuche unternommen, um die Verschwundenen für tot erklären und die Akten schließen
zu lassen. Mit falschen Listen über Todeszeitpunkte und -orte, scheinbaren
Schuldeingeständnissen über geheime Exhumierungen, öffentlichen
Demokratiebekenntnissen und moralischen Verurteilungen von Menschenrechtsverletzungen versuchten
sich die Militärs der Anklagen wegen Entführung von Oppositionellen zu entledigen.
Die Nachfolgepartei der Diktatur, UDI, nahm gar direkten Kontakt mit Angehörigen von
Verschwundenen auf, um ihnen im Mai 2003 öffentlich staatliche Entschädigungen anzubieten.
Gleichzeitig griff UDI auch die Forderungen der ehemaligen politischen Gefangenen nach
Haftentschädigung auf. Mit den Entschädigungszahlungen für Überlebende, einer
Forderung der sich die Regierung der Concertación stets verschlossen hatte, sollte deren
Zustimmung zur endgültigen Straflosigkeit erkauft werden.
So forderte UDI – zeitgleich mit den Entschädigungsangeboten – die Beendigung von
Strafprozessen und gerichtlichen Untersuchungsverfahren innerhalb einer festgeschriebenen Zeit.
Danach müsse das Gericht entscheiden, ob die Opfer noch am Leben seien und der Tatbestand der
Entführung andauere, oder ob vom Tod des Opfers auszugehen sei. In Kombination mit den
Selbstbezichtigungen sollte es so ein Leichtes sein, die Verschwundenen für tot erklären
zu lassen und damit die Täter wieder in den Genuss der Amnestie zu bringen.
Die unter Zugzwang geratene Regierungskoalition beantwortete den Vorstoß der Rechten und die
anlässlich des 30. Jahrestages des Militärputsches im ganzen Land entflammte Debatte
über die Diktaturverbrechen nun ihrerseits mit einem Entschädigungsprogramm.
Die von Präsident Lagos einberufene „Nationale Kommission für politische Haft und
Folter“ nahm im November 2003 ihre Arbeit auf und legte etwa ein Jahr später ihren
Abschlussbericht vor. Diese allgemein nach ihrem Vorsitzenden benannte
„Valech-Kommission“ hatte die Aufgabe, sechs Monate lang Material und Zeugenaussagen
zusammenzutragen und auf dieser Basis einen Vorschlag für ein Entschädigungsverfahren zu
erarbeiten.
Der „Valech-Bericht“ enthält rund 35.000 Zeugenaussagen ehemaliger politischer
Gefangener, die in mehr als 1.100 geheimen Haftzentren landesweit gefoltert wurden. Achtzig Prozent
der angehörten ZeugInnen wurden als entschädigungsberechtigt anerkannt. Als
Entschädigung erhalten sie nun eine Monatsrente von umgerechnet 195 US-$, Krankenversorgung und
ein kostenloses Studium.
Der Bericht wurde veröffentlicht und stellt ein bedeutendes Dokument zur historischen
Aufarbeitung der Diktaturverbrechen an politischen Gefangenen dar.
Gleichwohl kritisieren Menschenrechtsorganisationen vehement das begrenzte zeitliche Mandat der
Kommission, das es für schätzungsweise ein Drittel der Überlebenden unmöglich
machte, ihre Zeugenaussage abzugeben und Entschädigung zu beantragen.
Auch wurden circa 1.000 Kinder, die seinerzeit mit ihren Eltern festgenommen und teilweise vor deren
Augen gefoltert worden waren, nicht oder nur indirekt erfasst. Diese Überlebenden haben sich
nach Vorlage des „Valech-Berichtes“ zu einer eigenen Organisation zusammengeschlossen,
um nun ebenfalls Entschädigung für das Erlittene zu fordern. „Ricardo Lagos tat so,
als ob ihn das alles nichts anginge, und gab die Auflösung der Kommission bekannt“,
schimpft Ana Córtez von der Organisation der „Ex-Minderjährigen
Folteropfer“.
Juana Aguilera Jaramillo, von der "Ethischen Kommission gegen Folter" (CECT), fügt hinzu, dass
gerade in der zweiten Hälfte der 80er Jahre Menschenrechtsverletzungen immer seltener im Rahmen
formal-regulärer Haftstrafen, sondern zuhause, auf offener Straße oder auch in geheimen
Einrichtungen und Polizeiwachen stattfanden. „Diese Überlebenden berücksichtigt der
‚Valech-Bericht’ ebenfalls nicht“, kritisiert sie und fordert eine Ausweitung des
Mandats.
Die schärfste Kritik aller Menschenrechtsorganisationen richtet sich jedoch gegen die
staatliche Verfügung, dass die der Valech-Kommission bekannt gewordenen Zeugenaussagen
anonymisiert wurden und die Namen der Täter auf 50 Jahre geheim gehalten werden. Auf diese
Weise ist der Bericht nicht für die strafrechtliche Verfolgung der Verbrechen nutzbar.
Zwar wurde die Entschädigung nicht unmittelbar mit dem von UDI geforderten Schlussstrich unter
die Vergangenheit verbunden, die Straflosigkeit dauert jedoch trotz detaillierter Dokumentation der
Verbrechen auch 32 Jahre nach dem Militärputsch an.
Je mehr Zeit vergeht, desto weniger Täter werden noch zur Rechenschaft gezogen werden
können. Die Regierung Lagos spielt mit diesem Faktor Zeit und hofft auf
„Normalisierung“. So attestierte der Präsident der Entschädigungskommission,
sie habe „die notwendige Harmonie zwischen der Gesellschaft und ihrem Militär wieder
hergestellt“. Die Entschädigungsmaßnahmen dienten dazu „die Wunden zu heilen
und nicht, sie wieder zu eröffnen“.
Wer die Aufarbeitung der Vergangenheit aus dieser Perspektive beurteilt, wird auch
verfassungsrechtliche Demokratisierungen immer nur so weit voran treiben, wie sie die realen
Herrschaftsverhältnisse und die Straflosigkeit der Diktaturverbrechen nicht wirklich in Frage
stellen.
Die chilenischen Menschenrechtsorganisationen jedoch lassen nicht locker. Täglich werden neue
Klagen vorbereitet, jüngst gegen JournalistInnen, die seinerzeit willfährig die
Propagandalügen der Diktatur publizierten.
Und auch Ex-Diktator Pinochet ist noch nicht wirklich sicher. Nach einem längeren
Fernsehinterview sowie einer von ihm persönlich verfassten Verteidigungsschrift für seine
wegen Steuerhinterziehung verhaftete Ehefrau und seinen Sohn, rufen MenschenrechtsaktivistInnen aus
aller Welt den Obersten Gerichtshof Chiles in einer Petition auf, die Verhandlungsfähigkeit des
agilen Tyrannen neu zu prüfen.
(veröffentlicht in analyse & kritik, Nr. 498, Sept. 2005)