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Kampagne gegen die Straflosigkeit

Gerechtigkeit heilt

Medizinische Flüchtlingshilfe Bochum e.V.



Das Istanbul Protokoll als Instrument des internationalen Kampfes gegen Straflosigkeit von Verbrechen gegen die Menschheit

Vortrag von Bianca Schmolze bei dem Symposium der World Psychiatric Association „Dokumentation und Diagnose psychologischer und körperlicher Folgen organisierter Gewalt“ anlässlich der Veröffentlichung des Istanbul Protokolls in deutscher Sprache, Wien, 29.05.2009


Als allererstes möchte ich mich bei den OrganisatorInnen dieser Tagung dafür bedanken, dass sie mir die Gelegenheit gegeben haben, auf dieser überaus wichtigen Tagung auf die Bedeutung des Istanbul Protokolls als Instrument im Kampf gegen Straflosigkeit, speziell im Kampf gegen Folterer, eingehen zu können.

Noch immer wird Folter in vielen Ländern systematisch eingesetzt, obwohl zahlreiche Regierungen die von den Vereinten Nationen verabschiedete Anti-Folter-Konvention und andere Menschenrechtsabkommen unterzeichnet oder sogar ratifiziert haben. Dennoch wird in vielen Staaten weiterhin gefoltert, entweder um angebliche TerroristInnen zu überführen oder Geständnisse zu erzwingen, die in vielen Ländern noch immer als Beweismittel in Strafprozessen angesehen werden aufgrund mangelhafter kriminalpolizeilicher Ermittlungsmethoden und des fehlenden Prinzips der Unschuldsvermutung. Da jedoch auf übergeordneter Ebene eine angebliche „Null-Toleranz-Haltung“ gegenüber Folter herrscht, wird mit allen Mitteln versucht, Folter zu leugnen und zu vertuschen. Dabei sind sich die Verantwortlichen darüber bewusst, dass speziell Fälle von Folter und Misshandlung nur sehr schwer nachweisbar sind, da es in aller Regel keine ZeugInnen und oftmals keine Spuren für die Tat gibt. Vor allem da, wo Polizei oder Sicherheitskräfte die Verantwortung für Folter tragen, hat der/die Folterüberlebende kaum eine Chance, auf die eigene Situation öffentlich aufmerksam zu machen, geschweige denn rechtliche Wege zu beschreiten, um den oder die Täter zur Rechenschaft zu ziehen und Entschädigungen für das Erlittene zu erhalten. Auch dort, wo mittlerweile Folter nicht mehr zur systematischen Anwendung kommt, fehlt in der Regel die notwendige gesellschaftliche Anerkennung für vergangene Folter und Misshandlungen und deren Folgen, denn oftmals werden Überlebende von der Öffentlichkeit als Kriminelle oder Feinde des Staates angesehen. Immerhin waren sie ja von der Polizei und den Sicherheitskräften verhaftet worden. Dementsprechend wird den Aussagen der Überlebenden oft erst gar nicht geglaubt.

Genau hier setzen das Istanbul Protokoll und der Kampf gegen Straflosigkeit an. Denn beide dienen dem Zweck, das Folterverbot nicht nur gesellschaftlich durchzusetzen, sondern auch vor Gericht. Gelingt es, Fälle von Folter und anderen schweren Menschenrechtsverletzungen vor Gericht verhandeln zu lassen, ist dies ein wichtiges Signal an Folterer und deren Befehlsgeber, dass sie mit rechtlichen Konsequenzen zu rechnen haben und nicht mehr ungestraft davonkommen. Das Istanbul Protokoll ist dabei wesentliches Instrument bei der Beweiserhebung.

Doch zunächst möchte ich darauf eingehen, warum vor allem auch für die Überlebenden von Folter der Kampf gegen Straflosigkeit eine immense Bedeutung hat. Erinnern wir uns an die jahrzehntelangen Kämpfe von Überlebenden der lateinamerikanischen Militärdiktaturen, wie die Madres oder Abuelas de la Plaza de Mayo oder auch die Organisationen ehemaliger politischer Gefangener in verschiedensten Teilen der Welt.

Als die Medizinische Flüchtlingshilfe Bochum im Jahr 1997 ihre Arbeit aufgenommen hat, hat sie sehr schnell damit begonnen, neben medizinischen Leistungen auch Psychotherapie für Überlebende von Folter und Krieg anzubieten. Ein Thema wurde in den Therapien immer wieder angesprochen, nämlich wie sehr die KlientInnen unter der Vorstellung litten, nie wieder in ihre Heimat zurückkehren zu können aus Angst, ihren Folterern begegnen zu müssen.
Hier ein kleines Beispiel:
Herr S. ist 33 Jahre alt, Rom, und kommt aus Mitrovica, Kosovo. Acht Jahre lebte er mit einer Duldung in der Bundesrepublik Deutschland im Exil. Angesichts einer drohenden Abschiebung ist er im vergangenen Jahr in eine schwere depressive Krise gefallen. Außerdem klagt Herr S. über Angststörungen und betont, dass sich die Situation im Kosovo nicht wirklich geändert habe. Führende, an der Vertreibung seiner Familie beteiligte Paramilitärs bekleiden heute hohe Ämter der Regierung. Immer wieder erwähnt Herr S. die beiden ehemaligen kosovarischen Premierminister Agim Çeku und Ramush Haradinaj. Beide seien Kriegsverbrecher und verfügten bis heute über ungebrochenen Einfluss. Die allgegenwärtige Angst steht im Zentrum seiner Beschwerden, als sich Herr S. entscheidet, therapeutische Hilfe bei der Medizinischen Flüchtlingshilfe zu suchen.

Durch Beispiele wie dieses lernten wir zu verstehen, dass Straflosigkeit sowohl ein wesentlicher Faktor für die Fortdauer eines traumatischen Prozesses bedeutet, als auch eine Retraumatisierung zur Folge haben kann.

Daraufhin begann ab 2001 die Medizinische Flüchtlingshilfe und insbesondere mein Kollege Knut Rauchfuss, zur Wechselwirkung von Straflosigkeit und psychosozialem Befinden von Überlebenden zu forschen. Daraus entstand die internationale Menschenrechtskampagne „Gerechtigkeit heilt“. „Gerechtigkeit heilt“ bildet die Brücke zwischen der psychosozialen Arbeit mit Überlebenden schwerer Menschenrechtsverletzungen, der gesellschaftlichen Aufarbeitung der gewaltsamen Vergangenheit und der Demokratisierung der Zukunft in jenen Ländern, aus denen Menschen zu Zehntausenden fliehen mussten und oft heute noch fliehen müssen. Dabei wurden vor allem die Traumakonzepte von Dr. Hans Keilson, Martin Baró und David Becker zur Grundlage gelegt, die Trauma nicht nur als Einzelerfahrung verstehen, sondern als aufeinander folgende Sequenzen, welche nicht nur das Individuum, sondern die ganze Gesellschaft beeinflussen. Wegen dieser fortdauernden Wechselwirkungen zwischen Betroffenen und der sie umgebenden Gesellschaft, gibt es kein post-traumatisches Syndrom im Sinne des PTSD, sondern einen kontinuierlichen sozio-politischen Traumaprozess. In diesem Prozess kommt der mangelnden gesellschaftlichen Anerkennung dessen, was die Überlebenden erlitten haben, eine zentrale traumatische Bedeutung zu.

Ab Ende 2004 war es der Medizinischen Flüchtlingshilfe möglich, ein zweijähriges Forschungsprojekt zu dem Themenkomplex zu beginnen, welches zunächst mit einer internationalen Vergleichsstudie über Erfahrungen im Kampf gegen Straflosigkeit in 13 Ländern Lateinamerikas, Afrikas, Asiens und Europas endete. Die Untersuchungsergebnisse dieser Studie wurden Anfang dieses Jahres erstmals als Buch veröffentlicht unter dem Namen „Kein Vergeben. Kein Vergessen. Der internationale Kampf gegen Straflosigkeit“.

Noch während das Forschungsprojekt lief, organisierte „Gerechtigkeit heilt“ im Oktober 2005 einen internationalen Kongress mit ReferentInnen aus mehr als 17 Ländern, die ihre Erfahrungen im Kampf gegen Straflosigkeit erstmals miteinander teilen konnten. Am Ende des Kongresses traten die beteiligten Organisationen an die Medizinische Flüchtlingshilfe heran, mit dem Wunsch, dass „Gerechtigkeit heilt“ ein weltweites Netzwerk organisieren und koordinieren solle, um den Erfahrungsaustausch im Kampf gegen Straflosigkeit zukünftig zu intensivieren und so die Arbeit in den jeweiligen Ländern mit internationalen Kontakten zu unterstützen.
Dieses Netzwerk existiert seit Anfang 2007 und umfasst heute mehr als 60 KooperationspartnerInnen in 23 Ländern weltweit.
Dass die Arbeit von „Gerechtigkeit heilt“ so erfolgreich ist, liegt nicht zuletzt an dem Titel der Kampagne und des Netzwerkes. Überlebende und Angehörige von Opfern schwerer Menschenrechtsverletzungen wissen genau, wie wichtig die Erfahrung von Gerechtigkeit für die eigene Stabilisierung ist – sie kämpfen schließlich seit Jahrzehnten dafür, dass man die Täter vor Gericht stellt, die Überlebenden und Angehörigen entschädigt und Erinnerungspolitik betrieben wird.
Wann immer wir die zugrunde liegenden Gedanken von „Gerechtigkeit heilt“ auch gegenüber Therapiezentren in betroffenen Ländern vorstellten, war die Resonanz verblüffend eindeutig. Stets hieß es, „Genau das versuchen wir seit Jahren deutlich zu machen. Endlich kommt mal jemand, der diesen Zusammenhang erkannt hat und in den Vordergrund seiner Arbeit stellt. Da sind wir mit dabei.“

Denn die Straflosigkeit zu bekämpfen bedeutet mehr, als nur die Täter und Verantwortlichen vor Gericht zu stellen. Gerechtigkeit und der Kampf gegen Straflosigkeit fordern das Recht von Überlebenden, Angehörigen von Opfern und auch der Gesellschaft auf Wahrheit, Erinnerung und ein „Nie wieder“. Darüber hinaus bedeutet Gerechtigkeit die Möglichkeit für Überlebende und Angehörige von Opfern, ihren Fall vor ein Gericht zu bringen, die Täter zur Rechenschaft zu ziehen als auch Entschädigungen zu erhalten, die nicht nur monetären Charakter haben, sondern integral im Sinne einer umfassenden gesellschaftlichen Rehabilitierung verstanden werden sollten. Diese Prinzipien über die Rechte von Überlebenden gelten seit  2005 auch für die Vereinten Nationen.

Dennoch ist die Straflosigkeit auch heute noch weltweit umfassend. Zwar gibt es in den letzten Jahren, vor allem auf überstaatlicher Ebene, einige Erfolge zu verzeichnen, wie die verschiedenen Wahrheitskommissionen oder die internationalen Strafgerichtshöfe für Ex-Jugoslawien, Ruanda bzw. die überarbeiteten Nachfolgemodelle für Sierra Leone, Osttimor oder Kambodscha. Und seit 2002 gibt es den Internationalen Strafgerichtshof, der aktuell zu Verbrechen gegen die Menschheit in Uganda, Kongo und Sudan ermittelt. Und doch werden Menschenrechtsverletzungen und speziell Folter weiterhin begangen – trotz dieser Gerichte und verschiedenen Menschenrechtsverträge auf internationaler Ebene. Und dennoch bleiben diese Straftaten unbehelligt. Und das ist vor allem dem fehlenden politischen Willen von Regierungen geschuldet, die Verbrechen gegen die Menschheit leugnen, nicht untersuchen oder gar umdeuten, wie es während der Bush-Ära geschah, als Folter einfach nach eigenem Ermessen uminterpretiert wurde. Die Gefahr, dass diese Verbrechen straflos bleiben, ist auch nach dem hoffnungsvollen Regierungswechsel in den USA, wie wir in den letzten Wochen schmerzvoll erfahren mussten, weiter gegeben.
Doch während die Täter und Verantwortlichen systematisch geschützt werden, wird die Situation von Überlebenden ebenso systematisch ignoriert. Daher sind es vor allem die Überlebenden und Angehörigen von Opfern selbst, die den Kampf gegen Straflosigkeit bestreiten, um so auf ihre Situation aufmerksam zu machen und für ihre Rechte einzutreten. Die Straflosigkeit zu überwinden bedeutet in diesem Zusammenhang eine Situation zu schaffen, die die Überlebenden und Angehörigen von Opfern in die Lage versetzt, ihre Wunden zu heilen. Therapiezentren in Lateinamerika und Südafrika haben festgestellt, dass durch systematische Straflosigkeit das soziale Stigma von Überlebenden von Folter andauert durch die fehlende gesellschaftliche Anerkennung dessen, was sie erlebt haben. Durch das Fehlen von Gerechtigkeit wird zudem das Vertrauen in die Justiz zerstört und das Gefühl der Erniedrigung und Bedrohung aufrechterhalten. Dies führt wiederum dazu, dass Überlebende sich machtlos fühlen und unter mangelnder Selbstbestimmung und fehlendem Selbstvertrauen leiden. All dies sind wesentliche Hindernisse dafür, Traumatisierungen erfolgreich zu bearbeiten.

Daher bedeutet der Kampf gegen Straflosigkeit für viele eine Möglichkeit, wieder eine aktive Rolle in der Gestaltung ihres weiteren Lebens und der sie umgebenden Gesellschaft zu übernehmen, indem sie für ihre Rechte als Überlebende kämpfen. Dabei hatten sie in den letzten Jahren vor allem im Süden Lateinamerikas erheblichen Erfolg. Dies hat vor allem mit dem so genannten Pinochet-Effekt zu tun, der durch die Verhaftung im Jahr 1998 in London ausgelöst wurde und nicht nur in Chile dafür sorgte, dass sich die Überlebenden nicht mehr länger versteckten, sondern an die Öffentlichkeit traten, ihr Schweigen brachen und Gerechtigkeit forderten.

So wird im Allgemeinen heute anerkannt, dass die strafrechtliche Verfolgung, die Suche nach der Wahrheit sowie Maßnahmen für eine Erinnerungspolitik wesentlich für die Überwindung von Konflikten und Übergangsprozessen sind. Dies macht sich anhand der zahlreichen Wahrheitskommissionen, Strafprozessen gegen Täter und Hauptverantwortliche, als auch nicht ganz unumstrittenen alternativen Mechanismen, wie beispielsweise den Gacaca-Gerichten in Ruanda, deutlich.

Und dennoch wird Folter weiterhin begangen und die Hauptverantwortlichen setzen heute umso mehr daran, zu leugnen und alles daran zu setzen, dass eine strafrechtliche Verfolgung und damit ein Beweis für die Verbrechen unmöglich wird.

Umso bedeutender ist das Istanbul Protokoll, da es das erste von den Vereinten Nationen angenommene Manual zur effektiven Untersuchung und Dokumentation von Folter und ein führendes Instrument darstellt, um Folterüberlebenden medizinisch, psychotherapeutisch und juristisch zur Seite zu stehen. Es stellt internationale Standards bereit, nach denen die Diagnostik und die Dokumentation entsprechender Fälle betrieben werden kann, und die es ermöglichen, die entsprechenden Nachweise zu erbringen gegenüber den zuständigen Justizbehörden.

Doch wenn die Straflosigkeit tatsächlich so systematisch ist, wo können Fälle von Folter und Verbrechen gegen die Menschheit vor Gericht gebracht werden?
Zunächst einmal ist hervorzuheben, dass nach internationalem Recht zumindest jeder Unterzeichnerstaat der Anti-Folter-Konvention die Verpflichtung hat, Fälle von Folter unparteiisch und zeitnah aufzuklären. Dabei ist der Schutz von an den Ermittlungen Beteiligten, insbesondere ZeugInnen, zu gewährleisten.
Da dies jedoch in der Praxis zahlreicher Staaten leider nicht der Fall ist, müssen Überlebende und Angehörige von Opfern auf alternative Mechanismen ausweichen. Hier sind vor allem die Interamerikanische Menschenrechtskommission und der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte zu erwähnen, sowie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte. Für Verbrechen, die seit Juli 2002 begangen wurden, ist unter bestimmten Bedingungen der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag zuständig. Weitere Anlaufstellen sind vor allem der UN Sonderberichtserstatter über Folter Manfred Nowak, der leider heute nicht hier ist, der UN Sonderberichterstatter über Gewalt gegen Frauen, der UN Menschenrechtsbeirat sowie der UN Ausschuss gegen Folter. Das Istanbul Protokoll gibt hierzu detaillierte Hinweise.
In Südamerika, aber auch in Europa gibt es darüber hinaus immer mehr Staaten, die in ihre nationale Rechtsprechung das Prinzip der universellen Rechtsprechung übernommen haben. Damit ist es möglich, u.a. auch in Frankreich, Spanien, Italien und theoretisch auch in Deutschland, Fälle von Folter und anderen Menschenrechtsverletzungen vor Gericht zu bringen.

Doch damit ist die Straflosigkeit noch lange nicht besiegt. Solange Staaten sich weigern, ihre internationalen Verpflichtungen wahrzunehmen und weiter foltern, solange den Überlebenden ihr Recht auf Wahrheit, Gerechtigkeit und Entschädigung weiterhin verwehrt wird, solange muss der Kampf gegen Straflosigkeit geführt werden. Dabei brauchen wir umso mehr die Unterstützung von ÄrztInnen, PsychologInnen und AnwältInnen, um mit Hilfe des Istanbul Protokolls den notwendigen Druck auf Täter und Hauptverantwortliche für Folter ausüben zu können. Denn die Rechtsgrundlagen reichen heute hin, dass Folterer nicht mehr straffrei ausgehen müssten.
Bringen wir sie gemeinsam vor Gericht und zeigen wir ihnen, dass sie nicht mehr länger ungestraft davon kommen, denn wir haben die Anti-Folter-Konvention und mit dem Istanbul Protokoll ein scharfes Instrument, um den Kampf gegen die Straflosigkeit erfolgreich in Angriff zu nehmen.

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