Das Istanbul Protocol und die Folter
Von Knut Rauchfuss
„Selten können die medizinischen Befunde
‚beweisen’, dass eine Folterung stattgefunden hat“,
resümierte amnesty international (ai) noch vor wenig mehr als
zwanzig Jahren die Schwierigkeiten, die sich bei der Begutachtung von
Folterfolgen stellten. „Es gibt keinen Test, der so spezifisch
wäre, dass sich mit ihm unwiderlegbar belegen ließe, dass
ein vorhandenes Merkmal oder Symptom die Folge einer bestimmten
Folterhandlung ist“ (ai 1985, S. 127).
Während viele noch mehr als zwanzig Jahre später an die
Gültigkeit dieser Einschätzung glauben, nahm 1982 in
Kopenhagen das weltweit erste „Rehabilitations- und Forschungszentrum für Folteropfer“ (RCT)
seine Arbeit auf. Die Gründung des RCT ging hervor aus der
Kampagne gegen die Folter, im Zuge derer sich in den frühen 1970er
Jahren erstmals Heilberufe in spezifischen ai-Arbeitsgruppen
zusammengefunden hatten, um Überlebende von Folter zu behandeln
und das Forschungsdefizit über Folterfolgen und ihre Nachweise
anzugehen.
„Als wir damals begannen“, erinnert sich die Neurologin und RCT-Gründerin Dr. Inge Genefke, „hatten wir keinerlei Erfahrungen, auf die wir aufbauen konnten. Jede Erkenntnis über die Folgen der Folter mussten wir selbst generieren. In der Ärztegruppe haben wir damals sogar mittels Selbstversuchen z.B. die Gewebsveränderungen durch den Einsatz von Elektroschlagstöcken an unserer eigenen Haut histologisch erforscht.“ Hinzu kam die systematische Dokumentation der Untersuchungsbefunde, die sich aus der therapeutischen Arbeit mit Folterüberlebenden ergaben.
Das 1987 eröffnete Dokumentationszentrum des RCT umfasst heute
mehr als 50.000 Artikel, Bücher, Berichte, Fachaufsätze sowie
Bildmaterial und Datenträger. Weltweit entstanden in den
Folgejahren weitere Zentren. Der am RCT angesiedelte internationaler
Dachverband, das „International Rehabilitation Council for
Torture Victims“ (IRCT), hat bis heute 130 Mitgliedszentren
akkreditiert. In den letzten zwanzig Jahren konnten dementsprechend
zahlreiche neue Erkenntnisse über Folterfolgen gewonnen werden,
die jedoch zunächst nicht in standardisierte Verfahren zur
Untersuchung und Dokumentation von Folter mündeten, die
verbindlich für das Abfassen von Gutachten heranzuziehen
wären. Eine auf diesen Erfahrungen basierende international
verbindliche Richtlinie fehlte noch lange.
Richtlinien seit 1999
Diese Situation änderte sich am 9. August 1999. Die zu den
Mitgliedsorganisationen des IRCT zählende Menschenrechtsstiftung
der Türkei (TIHV) ergriff im März 1996 die Initiative zu
einer einheitlichen Richtlinie nach einem internationalen Symposium
„Medizin und Menschenrechte“, das die türkische
Ärztekammer in Adana veranstaltet hatte. Die TIHV unterhält
fünf Behandlungs- und Rehabilitationszentren in der Türkei,
in denen ÄrztInnen und PsychoutherapeutInnen Überlebende von
Folter versorgen und die Folgen der Misshandlungen dokumentieren; eine
Arbeit, für die die MitarbeiterInnen der TIHV in der Türkei
einem hohen Druck unterliegen und ihrerseits oftmals verhaftet,
verhört und verurteilt wurden.
Die türkische Menschenrechtsanwältin Hülya
Üçpınar weist auf die in der Türkei weit verbreitete
Folter hin, wenn sie erklärt, weshalb die TIHV 1996 die Initiative
zum Istanbul-Protokoll ergriff: „Es war der Fall Baki Erdoğan,
der einen entscheidenden Einfluss hatte.“
Erdoğan war zwei Jahre zuvor als mutmaßliches Mitglied der
verbotenen „Revolutionären Linken“ verhaftet und zu
Tode gefoltert worden. Nach offiziellen Angaben jedoch starb er an
Tuberkulose. Mit Hilfe von Fotos, die Familienmitglieder vor Erdoğans
Bestattung aufgenommen hatten, konnten Anwältinnen in
Zusammenarbeit mit der Ärztekammer die Wahrheit nachweisen und
dokumentieren. Mit einiger Verzögerung gelang es sogar, die
Verantwortlichen vor Gericht zu stellen und zu verurteilen.
„Die mit diesem Fall verbundenen Anstrengungen und der Erfolg
motivierten AnwältInnen und ÄrztInnen dazu, eine Richtlinie
für die Dokumentation und Untersuchung von Folterfällen
vorzubereiten. Nachdem wir auch international für eine solche
Richtlinie gearbeitet haben, gibt es nun das Istanbul-Protokoll“,
erläutert Üçpınar. Sie bezieht sich dabei auf die Zeit
ab 1996, als fünfundsiebzig ÄrztInnen, PsychotherapeutInnen,
RechtsanwältInnen und MenschenrechtlerInnen, die zusammen vierzig
Organisationen aus fünfzehn verschiedenen Ländern
repräsentierten, zusammenarbeiteten und im August 1999 der
UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, Mary Robinson, das fertig
ausgearbeitete Istanbul-Protokoll übergeben konnten. Zu den
zahlreichen AutorInnen zählen u. a. amnesty international, Human
Rights Watch, das Internationale Rote Kreuz, Physicians for Human
Rights, das Lawyers Committe for Human Rights, das Behandlungszentrum
für Folteropfer in Berlin sowie weitere Therapiezentren in
Südafrika, Chile und den USA, verschiedene universitäre
Institute, die türkische, dänische, britische, indische und
deutsche Ärztekammer sowie der Weltärztebund, und nicht
zuletzt das IRCT, dessen weltweit einzigartiger Erfahrungsschatz
für das Gelingen des Projektes von unermesslichem Wert war.
Handbuch seit 2004
Seit seiner Veröffentlichung Mitte 2004, im Rahmen der
UN’s Professional Training Series (Office of the UN High
Commissioner for Human Rights 2004), ist das Istanbul- Protokoll das
erste von den Vereinten Nationen angenommene „Manual zur
effektiven Untersuchung und Dokumentation von Folter oder anderer
grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder
Bestrafung“ und ein führendes Instrument, um
Folterüberlebenden medizinisch, psychotherapeutisch und juristisch
zur Seite zu stehen. Es stellt internationale Standards bereit, nach
denen die Diagnostik und die Dokumentation entsprechender Fälle
betrieben werden kann, und die es ermöglichen, die entsprechenden
Nachweise zu erbringen und gegenüber den zuständigen
Justizbehörden zu berichten.
So zeigt das Istanbul-Protokoll ausführlich und in systematischer
Form die aktuellen Möglichkeiten zum Nachweis von Folterspuren auf
und unterscheidet dabei zwischen der Diagnostik körperlicher
Symptome an Haut, Gesicht, Zähnen, Brust, Bauch, Muskulatur,
Skelettsystem, Urogenitaltrakt und Nervensystem in Folge
unterschiedlicher Formen von Misshandlung und dem Nachweis ihrer
seelischen Folgen.
Zusätzlich stellt das Handbuch eine Reihe von Standards zur
Untersuchung von Folterfällen auf, so zum Beispiel mit Bezug auf
die Gesprächsführung mit Überlebenden und ZeugInnen, die
medizinische Berufsethik, die Auswahl von UntersucherInnen, zum
Zeugenschutz, zum Umgang mit Täteraussagen und zur Einsetzung von
Untersuchungskommissionen.
Doch das Istanbul-Protokoll ist nicht allein für Rechts- und Gesundheitsberufe in Ländern geeignet, in denen Folter nach wie vor weit verbreitet ist und systematisch angewendet wird. Neben der unmittelbaren Verteidigung von KlientInnen, deren Aussagen unter Folter erzwungen wurden oder der Beweisführung in Fällen gegen Folterer, ist das Istanbul-Protokoll auch ein unerlässliches Hilfswerk für Menschenrechtsorganisationen und ihre Untersuchungsprogramme sowie für psychosoziale Zentren, die daraus besondere Erfordernisse im Umgang mit Überlebenden von Folter ableiten können.
Und das Handbuch eignet sich ebenfalls für den Nachweis auch
länger zurückliegender Folter zum Beispiel bei
Flüchtlingen im Asylverfahren. Die internationale
Menschenrechtsorganisation „Physicians for Human Rights“
hat daher im Jahr 2001 einen Leitfaden für die Begutachtung von
Flüchtlingen auf der Basis des Istanbul-Protokolls erstellt
(Physicians for Human Rights 2001).
Implementierung des Istanbul-Protokolls
Im Rahmen eines zweijährigen Pilotprojektes wurde das
Istanbul-Protokoll zunächst in fünf Ländern
implementiert: in Marokko, Mexiko, Georgien, Sri Lanka, und Uganda.
Federführend wird die Implementierung durch das IRCT, speziell
durch die TIHV, durchgeführt. Die TIHV hat zu diesem Zweck ein
Trainingsprogramm für medizinisches und juristisches Fachpersonal
ausgearbeitet. 2003, am „Internationalen Tag der
Folteropfer“ erteilte die EU-Kommission die
Finanzierungsgenehmigung und das IRCT entsandte, in Kooperation mit dem
Weltärztebund, mit „Redress Trust und Physicians for Human
Rights“, Schulungsteams in die Länder um Trainingsseminare
für Gesundheits- und Rechtsberufe abzuhalten. Das Pilotprojekt
wurde im vergangenen Jahr abgeschlossen und erreichte insgesamt 244
MitarbeiterInnen des Gesundheitswesens und 123 AnwältInnen sowie
Justizangestellte.
Mittlerweile hat die EU die Finanzierung für eine zweite
Implementierungsphase übernommen. Neben der Ausweitung der
Aktivitäten in den Pilotländern sollen fünf weitere
Länder hinzukommen. Diskutiert werden u.a. die Länder
Ecuador, Ägypten, Serbien, der Tschad und die Philippinen. Auch
sollen im Zuge dieser zweiten Phase Programme entwickelt werden, um in
den Zielländern selbst TrainerInnen auszubilden zu können.
Doch trotz aller Bemühungen ist der Bekanntheitsgrad des
„Istanbul Protocol“ weltweit noch sehr gering. Medizinische
und juristische Lehrpläne an den Universitäten behandeln das
Thema kaum.
Auch in der Bundesrepublik Deutschland wissen in den Berufsgruppen,
an die sich das Manual vorrangig richtet, nur die wenigsten um seine
Existenz. Selbst in Kreisen, die in der Menschenrechts- und
Flüchtlingsarbeit engagiert und daher täglich auch mit
Überlebenden traumatischer Ereignisse konfrontiert sind, ist das
Handbuch weitgehend unbekannt. Lediglich im Bereich der psychosozialen
Versorgung haben einzelne Fachleute Kenntnis darüber, was jedoch
nicht in jedem Fall bedeutet, dass sie es in der gutachterlichen Praxis
auch anwenden können.
Auch wenn die Bundesrepublik nicht zu jenen Ländern zählt, in
denen im Rahmen der genannten Aktivitäten des IRCT prioritär
Implementierungsprogramme angedacht sind, besteht auch hierzulande ein
hoher Bedarf für qualifizierte Gutachten über den Nachweis
von Folter, sowohl im Rahmen von Asylverfahren, als auch für
mögliche Strafprozesse gegen Folterer auf der Basis des
internationalen Strafrechtes.
Aufgrund dieses konkreten Bedarfs in der Bundesrepublik Deutschland
strebt die Medizinische Flüchtlingshilfe Bochum in Kooperation mit
anderen psychosozialen Zentren, die mit Folterüberlebenden
arbeiten, für das Jahr 2007 ebenfalls ein Implementierungsprojekt
an, mit dem Ziel, das Istanbul-Protokoll auch in der medizinischen,
psychotherapeutischen und juristischen Fachöffentlichkeit der
Bundesrepublik Deutschland zu verankern.
Literatur
amnesty international (1985): „Wer der Folter erlag
…“ – Ein Bericht über die Anwendung der Folter
in den 80er Jahren. Frankfurt am Main.
Office of the UN High Commissioner for Human Rights (2004): Istanbul
Protocol. Manual on the Effective Investigation and Documentation of
Torture and Other Cruel, Inhuman or Degrading Treatment or Punishment.
Professional Training Series No. 8/Rev.1 HR/P/PT/8/Rev.1 Geneva. Online
unter: http://www.unhchr.ch/pdf/8istprot.pdf.
Physicians for Human Rights (2001): Examining Asylum Seekers. A
Health Professional’s Guide to Medical and Psychological
Evaluations of Torture. Online unter: http://www.phrusa.org/campaigns/asylum_network/Asylum_Report_forWeb.pdf.
Das Handbuch kann bei der UN bestellt werden, es kostet 25,00 US-$.