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Kampagne gegen die Straflosigkeit

Gerechtigkeit heilt

Medizinische Flüchtlingshilfe Bochum e.V.

„Damit Dein Zeugnis Teil unserer Geschichte wird …“

Die paraguayische Kommission für Wahrheit und Gerechtigkeit übergibt ihren Abschlussbericht

Knut Rauchfuss

 

„Vergebung, ich bitte um Vergebung im Namen der paraguayischen Nation, für all die Ungerechtigkeiten, denen sie unterworfen waren“, wandte sich der paraguayische Präsident Fernando Lugo an die Überlebenden der Diktatur und an die Angehörigen der Verschwundenen und Ermordeten, als er am 28. August 2008 den Abschlussbericht der Kommission für Wahrheit und Gerechtigkeit (CVJ) öffentlich entgegennahm. „Vergebung, für all die Einsamkeit, die die Verfolgten durchleiden mussten. Vergebung für jeden kleinsten Teil des Schmerzes, der Körper, Geist und Seele jener verletzte, die für eine neue Gesellschaft kämpften, während der Rest des Landes die gefühllose Siesta der Symbiose mit einer schändlichen Diktatur durchschlief. Ich erwarte, dass die Gerechtigkeit Einkehr hält, um Zivilisten und Militärs zu bestrafen, die in die Verbrechen der Folter und des Verschwindenlassens von Menschen verwickelt sind.“ Doch ganz zuversichtlich schien der Präsident nicht zu sein, ob die Justiz „die ungeheure Herausforderung, den schwierigen und tief greifenden Anspruch“ auch schultern könne. „Wird sie fähig sein, ihre Funktion zu erfüllen, zu helfen, die offenen Wunden zu schließen?“, fragte Lugo nicht ohne jeden Zweifel. Der kritische Blick des Präsidenten auf die Justiz ist auch fast zwanzig Jahre nach dem Ende des Stroessner-Regimes mehr als angebracht, wie die Reaktionen der Anwesenden unmissverständlich belegten, als kurze Zeit später Víctor Nuñez, der Präsident des Obersten Gerichtshofes, ans Mikrofon trat.

„Korrupter! – Zyniker! – Hurensohn! – Denunziant!“, ein Sturm aus Beschimpfungen, begleitet von einem Pfeifkonzert, schallte dem Obersten Richter entgegen, so dass diesem keine andere Wahl blieb, als mit den Worten: „ich akzeptiere die Kritik, die sich gegen meine Person richtet“, vom Redepult wieder abzutreten.

Um die heftigen Reaktionen auf Nuñez’ Auftritt zu verstehen, ist ein Blick auf die paraguayische Justizgeschichte unerlässlich.

 

Fünfunddreißig Jahre lang hatte der deutschstämmige Diktator Alfredo Stroessner seine Macht auf eine zivilmilitärische Union von Colorado-Partei und Streitkräften gestützt, die den gesamten Staatsapparat einschließlich der Justiz umfasste, bis er am 3. Februar 1989 überstürzt die Flucht ergreifen musste. Ein Militärputsch aus den eigenen Reihen beendete seinerzeit abrupt die Alleinherrschaft des dienstältesten Diktators des Kontinents. Danach schienen die Ausgangsbedingungen für eine strafrechtliche Verfolgung der Diktaturverbrechen durchaus günstig. Anders als in den Nachbarländern hatten der Diktator und seine unmittelbaren Mittäter nicht die Zeit gehabt, einen verhandelten Übergang durchzusetzen. Hals über Kopf verließen Stroessner und sein Innenminister Augusto Sabino Montanaro das Land und erhielten in Brasilien beziehungsweise Honduras Asyl. In Paraguay gab es damit keine formellen Hindernisse, die für die Diktaturverbrechen Verantwortlichen vor Gericht zu stellen – kein Amnestiegesetz, kein Schlusspunktgesetz, keine Immunität oder sonstige Schutzmechanismen, mit deren Hilfe sich die Täter andernorts ihre Straffreiheit sicherten.

Auch das gesellschaftliche Klima war 1989 durchaus günstig für eine konsequente Vergangenheitspolitik. Noch im November 1989 schlossen sich Menschenrechts- und Angehörigenorganisationen zu einer Koordination gegen die Straflosigkeit zusammen und mobilisierten rund 20.000 Menschen zu einer Demonstration vor dem Justizpalast. Und als 1992 der Menschenrechtler Martín Almada die geheimen Polizeiarchive der Diktatur, das so genannte Archiv des Terrors, entdeckte und sicherstellen konnte, wurde auch die Beweislast gegenüber den für schwere Menschenrechtsverletzungen Verantwortlichen erdrückend.

Dennoch bedeutete das formelle Ende der Diktatur nur einen partiellen Bruch. 1989 hatte lediglich die Spitze des Regimes gewechselt, die politisch-militärische Einheit aus Colorados, Streitkräften und Staatsapparat bestand jedoch fort. Der Militärputsch war maßgeblich durch die Rivalitäten zweier Colorado-Strömungen ausgelöst worden, deren interne Fehden noch mehr als zehn Jahre lang die paraguayische Politik immer wieder an den Rand neuer Staatsstreiche trieben. Politik in Paraguay blieb trotz einzelner demokratischer Reformen eine Colorado-Politik. Erst in den Wahlen vom April 2008 gelang es, nach mehr als sechzig Jahren die Vorherrschaft der Partei zu brechen. Mit dem ehemaligen Bischof und Befreiungstheologen Fernando Lugo übernahm am 15. August erstmals wieder ein nicht-Colorado das Präsidentenamt.

 

Bereits unmittelbar nach dem Sturz der Diktatur leiteten Überlebende und Angehörige von Verschwundenen beziehungsweise Ermordeten die ersten Gerichtsverfahren ein. Von den 54 bis Ende 1989 angezeigten Fällen schwerer Menschenrechtsverletzungen wurden jedoch nur 17 durch die Staatsanwaltschaft angenommen, und auch in diesen Fällen ist es vielfach bis heute kaum möglich, zu rekonstruieren, bis zu welchem Grad überhaupt strafrechtliche Ermittlungen eingeleitet wurden. In der Regel wurden nur jene Anzeigen überhaupt weiterverfolgt, bei denen es den KlägerInnen gelang, einen wirksamen Druck auf die Staatsanwaltschaft auszuüben.

Die wesentlichen Faktoren, die einer strafrechtlichen Verfolgung der Verbrechen entgegenwirkten, bestanden in der Erblast einer Justiz, die nach wie vor der politischen Elite Stroessners nahe stand. 1990 gab es genau einen Richter, der nicht Mitglied der Colorado-Partei war. Aber bis vor ein Gericht kamen die Verfahren meist gar nicht. Die eigentliche Obstruktion betrieb die Staatsanwaltschaft, deren Aufgabe die Einleitung der Ermittlungen gewesen wäre. Eine antiquierte Gesetzgebung ermöglichte die Einstellung einer Reihe von Verfahren wegen Verjährung von Folter, die bis 1992 nur als „Körperverletzung“ angezeigt werden konnte. „Verschwindenlassen“ war als Tatbestand ohnehin nicht vorgesehen. Mit internationalen Rechtsauffassungen setzte sich der Justizapparat nicht auseinander. Und hatten einzelne Anzeigen die Hürde der Staatsanwaltschaft tatsächlich genommen, so ließen verschiedene Richter die Ermittlungen versiegen, ohne ein Verfahren zu eröffnen. Andere Richter gaben den jeweiligen Fall ab, so dass sich schließlich regelrechte Ketten der Weiterreichung von Verfahren entwickelten.

Zwischen 1989 und 2006 waren bei den paraguayischen Gerichten 3.583 Klagen wegen schwerer Menschenrechtsverletzungen unter der Stroessner-Diktatur anhängig. Verurteilt und inhaftiert wurden lediglich eine Hand voll Polizeibeamter. Kein einziger Militär und auch nicht die im Exil befindlichen Spitzen des Regimes mussten je eine Haftstrafe absitzen. Zahlreiche Hauptverantwortliche verstarben aufgrund der langen Dauer der Prozesse, bevor sie verurteilt werden konnten, einige davon immerhin im Gefängnis oder unter Hausarrest. Ex-Diktator Stroessner starb im August 2006 unbehelligt im brasilianischen Exil.

 

Als im Oktober 2003 das Gesetz zur Einrichtung der CVJ verabschiedet wurde, waren die Hoffnungen groß. Menschenrechts- und Angehörigenorganisationen hatten lange für einen solchen Schritt gekämpft. Die Kommission sollte endlich die Wahrheit über die Verbrechen ans Licht bringen, den Überlebenden die gesellschaftliche Anerkennung ermöglichen und die Grundlage für eine juristische Aufarbeitung der Vergangenheit bilden. Die Kommission nahm im August 2004 unter der Leitung des unter Stroessner als „roten Bischof“ titulierten Monseñor Mario Melanio Medina ihre Arbeit auf. Das Mandat der CVJ war weit gefasst. Die zu untersuchenden Verbrechen erstreckten sich von Haft und Folter über das Verschwindenlassen von Oppositionellen bis hin zum Exil. Der Untersuchungszeitraum umfasste die Jahre zwischen Mai 1954 und Oktober 2003, das heißt, auch die Übergangsjahre nach dem formellen Ende der Diktatur.

Obwohl das Mandat, anders als in anderen Ländern, keinerlei Restriktionen unterlag, war die Kommission zunächst jedoch kaum fähig, die ihr gestellte Aufgabe zu bewältigen. Ressourcen oder auch juristische Mittel, um Täteraussagen zu erzwingen, standen der CVJ nicht zur Verfügung. Ein wesentliches Hindernis für die Effektivität der Kommissionsarbeit waren die ihr angehörigen RegierungsvertreterInnen, die sich kaum aktiv beteiligten. Alle Arbeit lastete auf den VertreterInnen der NGOs, die mit hohem Einsatz versuchten, die für einen Abschlussbericht erforderlichen Informationen zu erheben und auszuwerten. Die gestellte Aufgabe innerhalb der auf 18 Monate beschränkten Mandatszeit zu erfüllen, erschien vor diesem Hintergrund völlig unmöglich. Daher bemühte sich die CVJ zunächst um eine Verlängerung ihres Mandates. Dies wurde zwar gewährt, im Jahr 2004 kürzte der Kongress jedoch das beantragte Budget um mehr als die Hälfte.

Ab Juni 2005 richtete die CVJ vier dezentrale Büros ein, um auch außerhalb der Hauptstadt Zeugenaussagen annehmen zu können, doch reichte der Etat für die notwendigen Reisekosten des Personals nicht aus. Auch die systematische Aufnahme von Zeugenaussagen im Exil konnte nicht vorgenommen werden, da die CVJ nicht über die notwendige Infrastruktur verfügte und auf eine Zusammenarbeit mit den Botschaften nicht vertrauen konnte. Lediglich in Argentinien, wo noch immer ein Großteil der paraguayischen Flüchtlinge und ihrer Nachkommen lebt, fanden im Mai 2006 und im Oktober 2007 zwei internationale öffentliche Anhörungen statt, in denen es um das Verschwindenlassen von paraguayischen Oppositionellen im argentinischen Exil ging.

Insgesamt hat die Kommission acht öffentliche Anhörungen, nicht nur zum Exil, sondern auch zur Unterdrückung der christlichen Ligas Agrarias Mitte der Siebziger Jahre, zum Thema Diktatur und Erziehung, zur Frage des Landbesitzes und zu speziellen Zielgruppen, wie zum Beispiel Frauen, Kinder und indigene Bevölkerung, durchgeführt.

Angesichts der Schwierigkeiten, denen die Kommissionsarbeit unterlag, wurde trotz solidarischer Zuarbeit aus den Reihen der paraguayischen Menschenrechtsorganisationen und argentinischer Unterstützung bei Exhumierungen oft daran gezweifelt, ob überhaupt jemals ein Abschlussbericht erstellt werden könne. Umso mehr überrascht nun ein fast 2.000 Seiten starker Bericht mit vier Anhangsbänden.

Zwischen Dezember 2004 und Mai 2008 startete die CVJ ihre Kampagne: „Damit Dein Zeugnis Teil unserer Geschichte wird“. Auf diese Weise gelang es der Kommission 2.059 Zeugenaussagen aufzunehmen. Zusätzlich griff sie zum Zweck ihrer Recherchen auf verschiedene Archive zurück. Die umfangreichste Datenquelle bildete dabei das Archiv des Terrors. Aus den Zeugenanhörungen ergab sich, dass mehr als die Hälfte der dort vorgetragenen Fälle in keinem der ausgewerteten Archive registriert war.

Einschließlich einer Dunkelziffer von etwa 50 Prozent, kalkulierte die CVJ daher eine Zahl von 20.090 Menschen, die während der Stroessner-Diktatur direkt von schweren Menschenrechtsverletzungen betroffen waren. Der größte Teil dieser Menschenrechtsverletzungen betrifft illegale Verhaftungen, die fast immer mit Folter einhergingen. Mehr als zehn Prozent der Betroffenen wurden mehrfach verhaftet und gefoltert. 423 Fälle von Verschwindenlassen oder politischem Mord registrierte die CVJ. Auch das erzwungene politische Exil wertete die CVJ als schwere Menschenrechtsverletzung, führte allerdings an, dass die registrierten 3.470 Fälle nur einen kleinen Ausschnitt der Gesamtzahl an ins Exil Getriebenen darstellen, da die verfügbaren Statistiken nicht zwischen Exil, Flucht und Asyl oder Arbeitsmigration unterscheiden.

Gemeinsam mit den indirekt von diesen Verbrechen Betroffenen nimmt die CVJ eine Zahl von mindestens 128.076 Menschen an, deren elementare Rechte zwischen 1954 und 1989 massiv verletzt wurden. Umgerechnet auf die Bevölkerung Paraguays waren damit jede zwanzigste Person beziehungsweise zehn Prozent aller Erwachsenen schweren Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt.

Außerdem weist die CVJ darauf hin, dass andere Menschenrechtsverletzungen, wie zum Beispiel Berufsverbote, Eingriffe in die Presse-, Organisations- und Versammlungsfreiheit, die Verletzung der sozialen Rechte insbesondere der Landbevölkerung, Kinderarbeit, die Missachtung der kollektiven Rechte der indigenen Bevölkerung und vieles mehr, nicht in dieser Statistik erfasst sind. „Die CVJ ist sich bewusst, dass die ökonomisch bedingte Migration ihren Ursprung in Umständen struktureller Gewalt hat“, heißt es außerdem im Abschlussbericht. Eine genauere Erfassung dieser Menschenrechtsverletzungen fiel jedoch nicht unter das Mandat. Die Kommission erwähnt sie jedoch und betont ihre „enorme Verbreitung während der Diktaturzeit“.

Hinsichtlich der von der Kommission dokumentierten Verbrechen, dominiert der rechtswidrige Freiheitsentzug. Statistisch kam auf 63 Erwachsene mindestens eine illegale Verhaftung, die in aller Regel auch Folter bedeutete. Die CVJ weist aber auch darauf hin, dass sich die Festnahmen nicht auf Erwachsene beschränkten. Der Anteil Minderjähriger unter den Folterüberlebenden liegt mit mehr als zehn Prozent außergewöhnlich hoch. Die Mehrzahl der politischen Häftlinge waren männlich, der Frauenanteil lag bei vierzehn Prozent. Gegenüber den weiblichen Gefangenen dominierte jedoch sexualisierte Gewalt, der die Kommission ein eigenes Kapitel widmet. Bezogen auf ihre Mitgliederzahl durchlitt die Kommunistische Partei relativ die stärkste Verfolgung, der numerisch größte Teil der Menschenrechtsverletzungen entfiel jedoch auf die christlichen Landkooperativen der Ligas Agrarias. Verbrechen wie gewaltsames Verschwindenlassen oder offene Exekutionen betrafen vor allem die bewaffneten Widerstandsorganisationen, die sich der Diktatur entgegenzustellen versuchten.

In ihrem Bericht stuft die CVJ die dokumentierten schweren Menschenrechtsverletzungen als Verbrechen gegen die Menschheit ein und weist ausdrücklich darauf hin, dass dies „bedeutet, dass es sich um nicht verjährbare Verbrechen handelt, die […] der universellen und internationalen Rechtsprechung unterliegen“. Der Verweis auf den Charakter des Verbrechens gegen die Menschheit erfolgt nicht ohne Absicht, da die paraguayische Staatsanwaltschaft für Folterdelikte noch immer eine Verjährung zugesteht.

Im Laufe ihrer Arbeit erstattete die CVJ in zehn Fällen Anzeige, die Klagen befinden sich noch im Ermittlungsstadium. In ihrem Bericht führt die Kommission außerdem 701 Täter namentlich auf, denen insgesamt 7.314 schwere Menschenrechtsverletzungen angelastet werden. In ihrem Bericht fordert die CVJ nicht nur die Strafverfolgung der namentlich aufgeführten Täter, sondern geht auch auf die politische Verantwortung der einzelnen staatlichen Institutionen ein. Eine bedeutende Mitschuld weist sie auch der Justiz zu, die „das Gesetz willkürlich ausgelegt“ und auf diese Weise der „Straflosigkeit ihren Segen“ gegeben habe. In einem umfangreichen Katalog von Empfehlungen fordert die CVJ daher auch eine Reform der Justiz und insbesondere des Obersten Gerichtshofes.

(erschienen in ila 319 Oktober 2008=


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