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Kampagne gegen die Straflosigkeit

Gerechtigkeit heilt

Medizinische Flüchtlingshilfe Bochum e.V.

Der lange Schatten der Generäle

Die psychosozialen Auswirkungen der Straflosigkeit schwerer Menschenrechtsverletzungen

Knut Rauchfuss

 

Am 25. November jährt sich zum zehnten Mal jene Entscheidung, mit der fünf britische Lordrichter im Herbst 1998 Geschichte im Kampf gegen die Straflosigkeit schwerer Menschenrechtsverletzungen schreiben sollten. Mehrheitlich entschieden sie, dass der damals in London festgenommene chilenische Ex-Diktator Augusto Pinochet keine Immunität gegen Strafverfolgung genieße.

Bis zu diesem Tag galt es weltweit als normal, dass die Verantwortlichen für schwere Menschenrechtsverletzungen allenfalls ins Exil gingen und dort einen unbehelligten Lebensabend verbrachten. Andere blieben gar im Land und traten später als Präsidentschaftskandidaten im formaldemokratischen Gewand erneut an. Wurde im Einzelfall ein ehemaliger Diktator doch zur Rechenschaft gezogen, so beschränkten sich die Beispiele der lateinamerikanischen Geschichte vorwiegend auf einzelne erfolgreiche Aktionen von Tyrannenmord.

Bemühungen aber, ehemalige Diktatoren in rechtsstaatlichen Prozessen vor Gericht zu stellen, blieben lange Zeit die absolute Ausnahme – markiert im Wesentlichen durch die argentinischen Juntaprozesse zwischen 1983 und 1985. Die Zögerlichkeit der Zivilregierung und der Druck aufständischer Militärs stellten jedoch auch dort schon bald die Straflosigkeit wieder her, und ab Ende 1990 befanden sich auch die letzten Verurteilten wieder auf freiem Fuß. Auch der sich über zehn Jahre schleppende bolivianische Prozess gegen Ex-Diktator General Luis García Meza brach nicht mit der allgemeinen Straflosigkeit. Wurde doch Ex-Diktator Hugo Banzer 1997 erneut zum Präsidenten gewählt.

Vor diesem Hintergrund stellte die Straflosigkeit schwerer Menschenrechtsverletzungen nach dem sukzessiven Ende der lateinamerikanischen Militärdiktaturen während der Achtziger und Neunziger Jahre den Standard der Vergangenheitspolitik zwischen Rio Grande und Feuerland dar. Übergangsregierungen zogen es vor, Schweigen über die Vergangenheit zu breiten, Befriedung durch Versöhnung zu propagieren und die ehemaligen Täter in die neue Gesellschaft zu integrieren. Für viele Menschenrechtsorganisationen und vor allem für die Vereinigungen der Angehörigen von Verschwundenen ging der Kampf gegen die Diktatur daher nahtlos über in den Kampf gegen die Straflosigkeit der Diktaturverbrechen. Sie versuchten, Amnestiegesetze zu unterlaufen, die Schicksale von Opfern aufzuklären, Überlebende zu rehabilitieren und die Täter doch noch auf die Anklagebank zu bringen. Heute – zehn Jahre nach dem Londoner Pinochet-Urteil – ist zumindest in den Ländern des Cono Sur eine deutliche Erosion der Straflosigkeit zu beobachten, deren größte Erfolge in Argentinien errungen werden konnten. Aber auch in Chile und Uruguay finden sich mittlerweile zahlreiche Folterer und politisch Verantwortliche vor Gericht wieder.

 

Der lateinamerikanische Kampf gegen die Straflosigkeit war und ist in weiten Zügen ein politischer Kampf entlang der Eckpfeiler „Memoria, Verdad, Justicia y Nunca más“. Diese vergangenheitspolitischen Forderungen werden jedoch seit den Achtziger Jahren auch begleitet von Forschungsaktivitäten, die die psychosoziale Bedeutung von Erinnerungspolitik, Wahrheitsfindung und Gerechtigkeit für die Überlebenden und die Angehörigen von Verschwundenen und Ermordeten herausstellen. Die Untersuchung der Auswirkungen von Straflosigkeit auf sozialpolitische Traumatisierungsprozesse geht dabei zurück auf die therapeutische Arbeit mit Überlebenden von Folter und Krieg und mit Angehörigen von Verschwundenen.

Der 1989 ermordete salvadorianische Sozialpsychologe Ignacio Martín-Baró prägte den Begriff des „psychosozialen Traumas“, um auf diese Weise den dialektischen Charakter von individueller Psychotraumatisierung und der sozialen Dimension von Krieg und Unterdrückung herauszustellen. Das psychosoziale Trauma, als Produkt gewaltsamer gesellschaftlicher Verhältnisse, wird nach Martín-Baró zwar individuell erlebt, erfasst aber neben dem Individuum auch dessen unmittelbares soziales Umfeld sowie weite Teile der Gesellschaft und führt zur Zerstörung der sozialen Beziehungen, auch zwischen den nur mittelbar Betroffenen. Diese dialektische Beziehung zwischen individueller traumatischer Erfahrung und gesellschaftlicher Traumatisierung erschließt sich besonders dann, wenn Trauma nicht als singuläres Ereignis, sondern als Prozess verstanden wird. Den prozesshaften Charakter des Traumas charakterisierte erstmals der Arzt und Psychoanalytiker Hans Keilson aus seinen Therapieerfahrungen mit Überlebenden der Shoah. Dabei fand Keilson heraus, dass die individuellen seelischen Folgen nicht nur von einem initialen traumatischen Ereignis beeinflusst werden, sondern von gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, unter denen vor allem jene von Bedeutung sind, die auf das traumatische Erlebnis folgen. Der zwischen 1982 und 1999 in Chile praktizierende Traumaexperte David Becker reformulierte und erweiterte Keilsons Konzept entlang der chilenischen Erfahrungen mit Folterüberlebenden. Gemeinsam mit anderen TherapeutInnen des Lateinamerikanischen Instituts für Seelische Gesundheit und Menschenrechte (ILAS) prägte Becker die Konzeption des kontinuierlichen Sozialpolitischen Traumatisierungsprozesses.

Vor diesem Hintergrund ist das psychosoziale Trauma für die Überlebenden niemals allein abhängig von dem Ausmaß des Erlittenen, sondern unterliegt in seiner Prognose ganz entscheidend dem Verlauf der gesellschaftlichen Dimension, in der es entstanden ist. Das individuelle seelische Befinden wird durch soziokulturelle und politische Entwicklungen, in der auf die Repression folgenden Phase, wesentlich beeinflusst.

In ähnlicher Weise argumentierte auch das argentinische Team für psychosoziale Arbeit und Forschung (EATIP) in seiner 1986 aufgelegten Dokumentation der psychologischen Folgen politischer Repression. In dieser Publikation wandten sich die Therapeutinnen Diana Kordon und Lucila Edelmann erstmals auch den psychosozialen Folgen der Straflosigkeit schwerer Menschenrechtsverletzungen zu.

Seither sind eine Reihe weiterer Untersuchungen durch das chilenische Therapiezentrum CINTRAS, den uruguayischen Sozialen Rehabilitationsdienst (SER-SOC) und die Gruppe Nie wieder Folter aus Rio de Janeiro (GTNM/RJ) hinzugekommen. Ihre Forschungsergebnisse haben maßgeblich zur Klärung der seelischen Folgen von politischer Repression und Straflosigkeit beigetragen.

Dabei wird „Straflosigkeit“ nicht allein als das Fehlen von Strafprozessen gegen die Verantwortlichen verstanden, sondern in einem umfassenden soziokulturellen Sinne. Die unmittelbare rechtliche Straffreiheit ist in den meisten Ländern eingebettet in eine weit reichende gesellschaftliche Ignoranz und Negation dessen, was den Opfern und Überlebenden widerfahren ist. In diesem Klima wachsen die psychosozialen Konsequenzen der Straflosigkeit. Sie perpetuiert die gesellschaftliche Ausgrenzung der Überlebenden unter ähnlichen, wenn auch subtileren Stigmata, aus der Diktaturzeit in die Übergangsgesellschaft. Ergänzt wird diese neue traumatische Sequenz durch den latenten bis offenen Fortbestand der Bedrohung, die sich in der Kontinuität des gesellschaftlichen Einflusses der ehemaligen Täter manifestiert.

 

Für Überlebende von Folter stellt sich die Kultur der Straflosigkeit als Barriere für die Aufarbeitung ihrer traumatischen Erfahrungen dar. Im Vordergrund steht dabei die fehlende gesellschaftliche Anerkennung für das Erlittene, die jedoch eine wichtige Voraussetzung für die biografische Einordnung des Erlebten und die Historisierung der Ereignisse darstellt. Ein gesellschaftliches Klima, in dem die begangenen Verbrechen negiert, das persönliche Leid strukturell angezweifelt und die unter der Diktatur verkehrten Täter-Opfer-Rollen nicht korrigiert werden, hält das unter der Folter geprägte Bild des omnipotenten Täters wach und vertieft Entrüstung, Zorn und Aggression vor dem Hintergrund andauernder Ohnmachtsgefühle auf Seiten der Überlebenden. Dies erweist sich insofern als besonders problematisch, als für zahlreiche Überlebende schwerer Menschenrechtsverletzungen die Kapazität zur Ausprägung gesunder Aggressionen durch die traumatischen Erlebnisse zerstört wurde. Wer zu viel Gewalt erlitten hat, hat oftmals die Fähigkeit verloren, das eigene aggressive Potential zu akzeptieren und Wut oder Zorn angemessen zu kanalisieren. Viele Überlebende neigen daher dazu, Aggressionen auf sich selbst zu projizieren, anstatt sie gegen die Täter zu wenden.

Eine Restrukturierung des zerstörten Lebensentwurfes, sowie der Wiederaufbau von Selbstwertschätzung und -vertrauen werden durch diese gesellschaftlichen Rahmenbedingungen er­schwert oder gar unterbunden. An ihre Stelle treten oftmals unvermindertes Misstrauen, Selbstzweifel und Autoaggression bei einem fortdauernden Gefühl der Erniedrigung.

 

In einem Klima der Straflosigkeit besteht für Überlebende von Diktaturverbrechen eine erhöhte Verletzlichkeit gegenüber Reakti­vierungen des Traumas. Übereinstimmend berichten Therapiezentren, dass sich bestimmte tagespolitische Ereignisse, auch Jahrzehnte nach dem offiziellen Übergang zu einer Zivilregierung, noch immer in ihrer therapeutischen Praxis bemerkbar machen. So treten signifikante Häufungen von Konsultationen im Zusammenhang mit Situationen auf, die Erinnerungen an die Repression der Diktaturen wachrufen, wie zum Beispiel nach Übergriffen gegen DemonstrantIn­nen im Zuge sozialer Auseinandersetzungen. Hinzu kommen zufällige Begegnungen mit ehemaligen Tätern im Alltag oder häufiger deren mediale Präsenz in Interviews und Talkshows, die traumatische Erinnerungen mobilisieren und zum krisenhaften Wiederaufleben von Ängsten oder anderen symptomatischen Rückfällen führen können. Diese sind zwar eine mittelbare Folge des durch die Diktatur hervorgerufenen psychosozialen Traumas und seiner individuellen wie auch kollektiven zerstörerischen Dimension. Ihr Auftreten korrespondiert in einem Klima der Straflosigkeit jedoch unmittelbar mit Ereignissen, die eine Rückkehr der Repression befürchten lassen. Der Straflosigkeit fällt dabei ein potenzierender Effekt in Art und Umfang der Trauma-Reaktivierungen zu.

 

Eine auf besondere Weise von Straflosigkeit betroffene Gruppe stellen die Angehörigen von Verschwundenen dar. Während der Diktaturen wie auch unter den zivilen Folgeregierungen waren und sind sie vielfach Zielobjekt staatlicher Desinformation. Die Suche nach den Verschwundenen erweist sich vielfach bis heute als Kontinuum aus falschen Spuren und neuen Hoffnungen, aus Sackgassen und Frustration. Daran haben auch mehr oder minder umfangreiche Aufklärungsversuche durch Wahrheitskommissionen nichts verändert. Ohne eine effektive Klärung des Schicksals der Verschwundenen aber dauert der traumatische Prozess für die Angehörigen unvermindert an. Er hat unter den zivilen Regierungen sogar eine neue Qualität erreicht, denn von ihnen wird erwartet, die drängenden Fragen zu beantworten. Vor diesem Hintergrund bedeutet die andauernde Suche nach Hinweisen auf das Schicksal der verschwundenen Angehörigen eine fortwäh­rend erhöhte Verletzlichkeit für Retraumatisierungen. Und die Suche selbst bedingt immer wieder neue Konfronta­tionssituationen mit der Vergangenheit, die sich als neue traumatische Sequenz ereignen. Zahlreiche Beispiele belegen, dass Angehörige dabei strukturell in Situationen gedrängt wurden, in denen fragwürdige neue Informationen nur um den Preis der Akzeptanz von Straflosigkeit erhältlich sein sollten. Die damit verbundenen Entscheidungskonflikte zogen sich oft quer durch die Familien. Diejenigen, die in diesem ausweglosen Dilemma der Wahrheitssuche den Vorrang gaben, erlitten besonders dann Retraumatisierungen, wenn sich rückwirkend herausstellte, dass sie nur ein weiteres mal betrogen werden sollten, „neue Informationen“ über das Schicksal der Verschwundenen sich als systematisch gefälscht erwiesen und Exhumierungsversuche ins Leere liefen. Therapiezentren schildern in diesen Konstellationen massive Reaktivierungen klinischer Symptome.

 

Für zahlreiche Angehörige verhindert das gesellschaftliche Klima der Straflosigkeit daher eine effektive Trauerarbeit. Trauerarbeit ist ein komplexer emotionaler und kognitiver Prozess. Sie verfolgt das Ziel, den Verlust anzuerkennen und nach und nach zu ertragen. Trauerarbeit spielt sich im sozialen Raum ab, aus dem Trost und Unterstützung erfahren werden kann. Dabei spielen unter anderem Erinnerungsprozesse, Abschied nehmen und die Integration des erlittenen Verlustes in das eigene Ordnungs- und Wertesystem eine wesentliche Rolle. Ein formelles Beerdigungsritual und die Existenz eines Grabes unterstützen das symbolische Moment des Abschiednehmens, dem nicht nur eine soziokulturelle Bedeutung, sondern auch eine hohe intrapsychische Relevanz bei der Akzeptanz des Verlustes zufällt. Im Falle der Angehörigen von Verschwundenen bleibt jedoch unklar, welche Realität denn überhaupt akzeptiert werden müsste. Die vollständige Aufklärung des Schicksals der Verschwundenen wäre daher konstitutiv für eine Trauerarbeit der Angehörigen.

In einer Kultur der Straflosigkeit ist die Wahrheitsfindung maximal erschwert und durch die offizielle Lüge ersetzt worden, mit der Folge, dass der erlittene Verlust vielfach nicht akzeptiert werden kann. In dieser Dynamik sind die Verschwundenen weder tot noch lebendig, sie sind abwesend und zugleich dauerhaft präsent. Dieser Konflikt zwischen Anwesenheit und Abwesenheit kann eine psychotisierende Wirkung auf Angehörige haben.

 

Das Festhalten an der Präsenz der Verschwundenen muss jedoch nicht zwangsläufig die geschilderten Folgen nach sich ziehen, vor allem dann nicht, wenn es in eine kollektive Bewältigungsstrategie mündet, wie sie zum Beispiel die argentinischen Mütter der Plaza de Mayo praktizieren. Ihr Zusammenschluss zu einer Organisation, das gemeinsame Vorantreiben ihrer Nachforschungen, die Entprivatisierung von Schmerz und dessen Überführung in kollektiven Protest ist geeignet, gesundheitsförderndes Kohärenzgefühl herzustellen.

Die mit ihrem Protest verbundene Forderung nach „lebendiger Rückkehr“ der Verschwundenen und die symbolische Betonung von deren „Anwesenheit“ wurden vielfach kontrovers diskutiert, auch innerhalb der Organisation selbst, die sich unter anderem in der Frage der Akzeptanz der Ermordung der Verschwundenen spaltete. In der Diskussion wird der formelhaften Negierung des Todes vielfach eine realitätsferne Wahrnehmung zugeschrieben. Diese Pathologisierung verkennt jedoch die in dieser symbolischen Geste gegen das Vergessen enthaltene Bewältigungsstrategie. Trotz der hartnäckigen Gegenwehr gegen sämtliche staatlichen Versuche, die Verschwundenen für tot erklären zu lassen, haben letztlich fast alle Angehörigen mit den Jahren faktisch akzeptiert, dass ihre verschleppten Familienmitglieder nie wiederkehren werden. Gerade diejenige Strömung, die am radikalsten auf der „lebendigen Rückkehr“ besteht, praktiziert heute längst eine abstrakte Form des Gedenkens, in der sich das Weiterleben der Verschwundenen in die Aufrechterhaltung der Kämpfe um soziale Veränderung transformiert hat – der Kämpfe für jene Ziele, für die die Angehörigen verschleppt, gefoltert und ermordet wurden.

 

Ohne Zweifel wirkt sich die Situation der Straflosigkeit jedoch für alle Angehörigen von Verschwundenen und Ermordeten, ebenso wie für die Überlebenden von Haft und Folter in hohem Maße belastend aus – insbesondere für jene, die sich nicht organisiert haben. In vielen Ländern ist ihre Situation seit Jahrzehnten geprägt durch soziale Ausgrenzung und Marginalisierung. Bedingt durch eine Kultur der Straflosigkeit hat sich diese Situation vielfach auch nach dem Ende der unmittelbaren Repression kaum verändert. Der Kampf gegen Straflosigkeit ist daher nicht nur ein moralisch legitimer Kampf um Menschenrechte, das Ende der Straflosigkeit bildet auch eine Grundvoraussetzung für die nachhaltige Stabilisierung der Überlebenden.

 

(erschienen in ila 319 Oktober 2008)

 


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