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Der Greifvogel verliert seine Federn

Die Operation Cóndor wird weltweit zur einer Frage der Justiz

Von Knut Rauchfuss, Mai 2008

Am Morgen des 26. November 1975 begrüßte Chiles Geheimdienstchef, Hauptmann Manuel Contreras, im großen Saal von Santiagos Kriegsakademie die leitenden Geheimdienstoffiziere aus fünf Nachbarländern.  Die hier vertretenen Armeen und Polizeieinheiten unterdrückten  zu diesem Zeitpunkt bereits mehr als zwei Drittel der südamerikanischen Bevölkerung. In Chile, Paraguay, Uruguay, Bolivien und Brasilien hatten Militärdiktaturen der Opposition den Kampf erklärt, während in Argentinien eine noch formaldemokratische Regierung ihre GegnerInnen mit Hilfe rechtsradikaler Todesschwadronen verfolgen ließ. Was in den folgenden drei Tagen beschlossen wurde, war ein grenzüberschreitendes Programm zur  Eliminierung von Oppositionellen, wie es der lateinamerikanische Kontinent bis dato nicht erlebt hatte. Die „Operation Cóndor“ wurde vertraglich besiegelt und kostete insbesondere nach dem drei Monate später folgenden Militärputsch in Argentinien Zehntausende Menschen das Leben. Wer auch immer in einem der an der Operation beteiligten Länder Zuflucht gesucht hatte, wurde nun erneut verfolgt, verhaftet und verschleppt.

Mehr als 32 Jahre später ist noch immer ein Großteil derer, die Verantwortung für Folter und Mord tragen, auf freiem Fuß. Gerichte in Europa und in den betroffenen Ländern versuchen jedoch, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen.

Zum Jahreswechsel erregten 140 internationale Haftbefehle gegen die wichtigsten noch lebenden Autoren und Vollstrecker der Operation Cóndor international Aufsehen, die der italienische Staatsanwalt Giancarlo Capaldo auf den Weg gebracht hat. Zeitgleich mit der Ausstellung der Haftbefehle ging den italienischen Behörden auch der flüchtige uruguayische Offizier Néstor Jorge Fernandéz Tróccoli ins Netz (vgl. ak 525).

Vier Monate später ist Tróccoli wieder ein freier Mann. Bereits im Januar hatte ein römisches Gericht entschieden, dass Fluchtgefahr hinsichtlich des italienischen Verfahrens nicht bestehe, den ehemaligen Offizier des Marinegeheimdienstes aber bis zur Entscheidung über ein uruguayisches Auslieferungsgesuch weiter in Haft gehalten. Am 24. April schließlich wurde dieses als unbegründet zurückgewiesen. Die anfängliche Sprachlosigkeit die das brüske Urteil hervorrief, schlug bei den Familienangehörigen der Verschwundenen um in schiere Empörung, als die Details der Urteilsbegründung öffentlich wurden. Die uruguayische Botschaft hatte die schriftliche Auslieferungsbegründung erst acht Tage nach Ende der Abgabefrist übermittelt.

„Jemand - in Uruguay und/oder in Italien – hat absichtlich oder aus Nachlässigkeit verhindert, dass Tróccoli an die uruguayische Justiz übergeben wird“, erklärte Cristina Mihura im Namen der italienischen Angehörigen und erstattete unmittelbar Anzeige gegen Unbekannt. Erinnerungen an den August 2002 wurden wach, als einem argentinischen Folterer mit Hilfe alter Seilschaften die Flucht aus Italien gelang.

Was also war passiert, seit der uruguayische Richter Luis Charles bereits am 13. Februar - vierzig Tage vor Auslaufen der Frist - die 661 Seiten umfassende Begründung zur Übersetzung an den Obersten Gerichtshof in Montevideo übergeben hatte? Warum benötigten fünf Gerichtsübersetzerinnen 30 Arbeitstage bis die italienische Ausfertigung an das Außenministerium übergeben wurde? Dieses immerhin brachte das Schriftstück binnen 24 Stunden als „diplomatische Eilpost“ auf den Weg nach Rom. Am 25. März bestätigte die uruguayische Botschaft in Rom den Erhalt des Auslieferungsgesuches mit Datum vom 18. März – fünf Tage vor Auslaufen der Frist. Botschafter Carlos Abín allerdings gab später gegenüber der Presse an, die Botschaft habe die Sendung erst am 21. März entgegengenommen. Während das Außenministerium beteuert, die Botschaft per Luftpost über die Dringlichkeit zur Einhaltung der Frist informiert zu haben, bestreitet der Botschafter, davon Kenntnis erhalten zu haben. Er habe die Vollständigkeit der Unterlagen zweifach sorgfältig prüfen lassen. Mit der Folge, dass die Unterlagen erst am 31. März den italienischen Behörden übergeben wurden.

Für die Angehörigenvereinigung besteht kein Zweifel, dass hier kein rein bürokratisches Versäumnis vorliegt. Die Verzögerung sei als „Komplizenschaft mit dem Beschuldigten“ anzusehen, Als „Unverschämtheit“ bezeichnete auch Cristina Mihura die auf diese Weise wiederhergestellte Straflosigkeit: „Das Gefühl, ein weiteres Mal mit auf den Rücken gefesselten Händen dazustehen und nichts tun zu können, ist beklemmend“. Die uruguayische Staatsanwältin Mirtha Guianze und Richter Charles kündigten an, die Ablehnung der Auslieferung nicht auf sich beruhen zu lassen. Intensive Nachforschungen in Argentinien sollen die Begründung für einen erneuten Antrag liefern. Auch der italienische Staatsanwalt Capaldo verwies darauf, dass seine Ermittlungen gegen Tróccoli andauern. Gegen die Haftentlassung werde er gerichtlich vorgehen.

Durch die Freilassung Tróccolis wurde eine andere Nachricht weitgehend aus den Schlagzeilen verdrängt. Bereits am 10. März wurde auf dem Flughafen von Buenos Aires ein weiterer, von Capaldo zur Fahndung ausgeschriebener, uruguayischer Militär verhaftet. Antranig Ohannessian war auf dem Rückweg aus Miami. Er wollte soeben die Maschine zur Weiterreise nach Montevideo besteigen, als die argentinischen Beamten den Major der ehemaligen uruguayischen „Koordinierungsbehörde für antisubversive Operationen“ (OCOA) festnahmen. Ohannessian wird die Folterung und das Verschwindenlassen zahlreicher politischer Gefangener vorgeworfen. Seinen Ruhestand verlebte der Folterer bis dato unangetastet als Berater der österreichischen Erzherzogin Laetitia D’Aremberg in dem uruguayischen Badeort Punta del Este.

In Argentinien begann die juristische Untersuchung der Operation Cóndor im November 1999. Am 28. November 2007 eröffnete Bundesrichter Sergio Torres die öffentliche Hauptverhandlung gegen die ehemaligen Juntachefs Jorge Rafael Videla und Cristino Nicolaides, sowie weitere Verantwortliche, deren Namen sich auch unter den 57, Mitte Februar aus Rom eingetroffenen Haftbefehlen wieder finden. Insgesamt sind mittlerweile 34 Beschuldigte in das Verfahren eingebunden, siebzehn von ihnen in Vorbeugehaft. Ende 2007 waren in Argentinien insgesamt gegen 922 Beschuldigte Strafverfahren wegen schwerer Menschenrechtsverletzungen während der Diktaturjahre anhängig.

Auch gegen zahlreiche Militärs aus den Nachbarländern hat die argentinische Justiz mittlerweile Verfahren eingeleitet. Erstmals stimmte ein uruguayisches Gericht Anfang April dem argentinischen Auslieferungsgesuch in zwei Fällen erstinstanzlich zu.

Bisher hatte Uruguay die Auslieferung eigener Staatsbürger lediglich nach Chile bewilligt, wo im Fall der Entführung und Ermordung des chilenischen Chemikers Eugenio Berríos u. a. gegen die drei uruguayischen Militärs verhandelt wird. Berríos, der zunächst für die chilenische Militärdiktatur chemische Kampfstoffe entwickelt hatte, wurde für den ehemaligen chilenischen Geheimdienstchef Contreras 1993 zum Risikofaktor. Damals wurde gegen Contreras wegen der Ermordung von Allendes Außenminister Letelier 1976 im Washingtoner Exil ermittelt. Berríos galt als möglicher Zeuge und wurde seinerseits nach Uruguay verschleppt und später dort ermordet.

Contreras sitzt seit 1995 sporadisch und seit 2002 kontinuierlich hinter Gittern. Die Strafen zu denen die chilenische Justiz den 79jährigen letztinstanzlich bereits verurteilt hat, summieren sich mittlerweile auf mehr als 57 Jahre.

Die paraguayische Polizei bereitet nach Angaben des lokalen Interpolchefs Kommissar Armando Rubén Barboza einen Bericht an die italienischen Staatsanwaltschaft vor, in dem sie die ihr bekannten Informationen über die vier zur Fahndung ausgeschriebenen paraguayischen Staatsbürger zusammentragen will. Während Stroessners Ex-Innenminister Montanaro sich in Honduras aufhält, fehlt von Rubén Sosa Aranda und Francisco Brítez Borges jede Spur. Auch in Bolivien wurde der Eingang von sieben Haftbefehlen bestätigt.

In Peru und Brasilien hingegen stieß der italienische Vorstoß hingegen auf heftige Zurückweisung.

Der ehemalige peruanische Militärdiktator Francisco Morales Bermúdez bestritt über die Medien jede Beteiligung des Landes an der Operation Cóndor. Die politischen Beziehungen, insbesondere zu Chile, seien seinerzeit viel zu schlecht für eine solche Kooperation gewesen. Lediglich habe seine Regierung einige Mitglieder der argentinischen Guerillaorganisation Montoneros aus Peru „ausgewiesen“. Er sei jederzeit bereit, sich der italienischen Justiz zu stellen.

Rückendeckung erhielten Ex-Diktator Morales Bermúdez und drei weitere von der italienischen Justiz gesuchte Generäle von Präsident Alan García, der ebenfalls bestritt, Peru habe an der Operation Cóndor mitgewirkt und einer Auslieferung nach Italien eine kategorische Absage erteilte. Die Leugnung einer peruanischen Kooperation wurde unmittelbar als Lüge offenbar. Die argentinische Justiz veröffentlichte vom US-Außenministerium freigegebene Dokumente aus denen eine Beteiligung einwandfrei hervorgeht. In einem internen Schreiben vom August 1978 bestätigte der damalige US-Botschafter in Buenos Aires, dass Peru und Ecuador der Operation „kürzlich beigetreten“ seien. Peru erhielt im Rahmen der Operation das Telex-Kürzel: „Condortel8“. Auch ein Geheimdokument aus Chile vom April desselben Jahres bezeichnet den damaligen peruanischen Diplomaten Montagne als „Ansprechpartner in Sachen Cóndor“ in Santiago de Chile. Ein weiteres Papier belegt den Aufenthalt von Agenten des für Geheimoperationen zuständigen argentinischen Bataillons 601 in Lima, im Juni 1980, kurz vor dem Ende der Diktatur von Morales Bermúdez. Dem US-Dokument zufolge kooperierte Bataillon 601 mit dem peruanischen Militärgeheimdienst bei der Entführung von vier argentinischen Oppositionellen, darunter drei angeblichen Montoneros, die 1980 im Rahmen der Operation Cóndor aus Peru verschleppt wurden. Die Leiche einer vierten Verschwundenen, Noemí Esther Gianotti de Molfino von den Müttern der Plaza de Mayo, wurde nach ihrer Entführung in einem Hotelzimmer in Madrid aufgefunden.

Auch vier führende Vertreter und ehemalige Kongressabgeordnete der peruanischen Linken bestätigten auf einer Pressekonferenz am 7. Januar Perus Beteiligung an der Operation Cóndor und verwiesen ihre eigene Entführung nach Buenos Aires im Jahr 1978. Gemeinsam mit neun weiteren Oppositionellen seien sie nach Argentinien verschleppt, und dort in geheimen Haftlagern gefoltert worden. Sechs der Entführten wurden nie wieder gesehen. Die vier Überlebenden Abgeordneten kündigten an, ihre Aussagen an das italienische Gericht weiterzuleiten und dort als Zeugen aufzutreten. Einer von ihnen, Genaro Ledesma erklärte zudem, dass Morales Bermúdez bereits am 29. September 1975 anlässlich eines Banketts die Beteiligung Perus an der Operation Cóndor zugegeben habe.

Wie Ende April bekannt wurde, hat die peruanische Justiz die italienischen Haftbefehle und das damit verbundene Auslieferungsgesuch zunächst aus formalen Gründen zurückgewiesen und eine Verhaftung der vier Generäle abgelehnt.

Ähnlich zögerlich reagierte die brasilianische Regierung auf elf italienische Haftbefehle. Justizminister Tarso Genro bestreitet bis heute, überhaupt ein offizielles Auslieferungsersuchen erhalten zu haben. Im Übrigen erlaube die brasilianische Verfassung keine Auslieferungen von Staatsbürgern und das noch durch die Militärdiktatur erlassene Amnestiegesetz, schließe eine Strafverfolgung in Brasilien aus. Im Zuge eines Kooperationsabkommens mit Italien könne zwar eine Untersuchung eingeleitet werden, jedoch nur in den Grenzen der bestehenden Gesetze. Dabei seien auch etwaige Verjährungen zu beachten. Für nach Ablauf der Amnestiefrist begangene Straftaten allerdings, wie die Verschleppung zweier angeblicher Montoneros im Jahr 1980, könnten gegebenenfalls Prozesse eingeleitet werden.

Derart abgesichert dauerte es nicht lange bis sich der erste Militär von Capaldos Liste öffentlich zu Wort meldete. „Wir haben nicht getötet, sondern festgenommen und ausgeliefert“, rechtfertigte sich Ex-General Agnaldo del Nero Augusto, von 1964-1985 Chef des Geheimdienstes des Heeres. Die Beteiligung Brasiliens habe sich „auf den Austausch von Informationen, das Training ausländischer Agenten und die Überwachung der Subversiven“ beschränkt. Mit Bezug auf die geheime Verschleppung zweier angeblicher Montoneros nach Argentinien fügte er hinzu: „Welches Verbrechen liegt in ihrer Verhaftung?“

Die italienischen Haftbefehle lösten eine öffentliche Debatte aus, die in Brasilien in dieser Weise bisher unbekannt war. Senator Christovam Buarque erklärte öffentlich: „Was sie taten, war die Leute in den Tod zu schicken“. Menschenrechtsminister Paulo Vannuchi versprach die Veröffentlichung digitalisierter Informationen über die Diktaturjahre und auch der oberste Gerichtshof fordert die Öffnung der Archive der Diktatur.

Wesentlich beschleunigt wurde die brasilianische Debatte über die Vergangenheit durch die Aussage des wegen illegalen Waffenhandels in Brasilien inhaftierten uruguayischen Ex-Militärs und Agenten der Operation Cóndor Mario Neira Barreiro. Barreiro erläuterte vor laufenden Kameras er habe an der Vergiftung des von der Diktatur gestürzten brasilianischen Präsidenten João „Jango“ Goulart mitgewirkt. Goulart sei im uruguayischen und später argentinischen Exil beobachtet worden. Barreiro bekräftigte seine Aussage, mit Details dieser Überwachung. Wie auch die uruguayischen Parlamentarier Zelmar Michelini und Héctor Gutiérrez Ruiz, sowie der bolivianische Ex-Präsident Jorge Torres, sei auch Goulart 1976 in Argentinien ermordet worden. Man habe seine Herzmedikament durch Gift ersetzt. Nun wird zum Tod von Ex-Präsident „Jango“ neu ermittelt. Und auch am Tod von Goularts Amtsvorgänger Juscelino Kubitschek bei einem ungeklärten Autounfall im selben Jahr sind in der Öffentlichkeit mittlerweile Zweifel aufgekommen.

Der Menschenrechtsausschuss führt in den kommenden Monaten eine Serie von Anhörungen zur Operation Cóndor durch. Justizminister Genro hingegen möchte die Verbrechen nun doch vor Gericht verhandelt sehen, den Aufschlag solle die Justiz jedoch selbst wagen.

(erschienen in: analyse und kritik 528; in gekürzter Form in poonal.



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