Logo MFH

Kampagne gegen die Straflosigkeit

Gerechtigkeit heilt

Medizinische Flüchtlingshilfe Bochum e.V.


„Damit die Wahrheit endgültig über die Heuchelei triumphiert“

Argentinischer Militär Adolfo Francisco Scilingo in Spanien verurteilt


Am 4. Juli 2007 befand der spanische Oberste Gerichtshof letztinstanzlich den ehemaligen argentinischen Marinekapitän Adolfo Francisco Scilingo schwerer Verbrechen gegen die Menschheit, die er während der Jahre der Militärdiktatur begangen hatte, für schuldig und verurteilte ihn zu 1.084 Jahren Haft. Scilingos Weg auf die spanische Anklagebank begann vor dreizehn Jahren, als der damalige Offizier das Büro des argentinischen Journalisten Horacio Verbitsky betrat.

„Ich war in der ESMA. Ich möchte mit Ihnen reden.“ Horacio Verbitsky hielt den schlicht gekleideten Mittvierziger mit großer Nase und Schnauzbart zunächst für einen Überlebenden der ESMA, jenes berüchtigten geheimen Folterzentrums in der Marineschule Escuela de Mecánica, und war umso verwunderter, als ihm der Gast eröffnete, er sei gekommen, um einen Kameraden zu unterstützen, dem der zuständige Senatsausschuss die Beförderung verweigert habe.
Die Aufmerksamkeit des Journalisten und Menschenrechtsaktivisten war sofort geweckt, denn die Beförderungsaffäre hatte im Vorjahr die argentinische Öffentlichkeit empört. Die Empörung hatte vor allem Präsident Menem gegolten, der nicht nur zwei Folterer der Militärdiktatur zur Beförderung vorgeschlagen hatte. Der Präsident hatte sich darüber hinaus öffentlich hinter die Armee gestellt und deren so genannten „erfolgreichen Kampf gegen die Subversion“ gelobt, nachdem sich die beiden Offiziere vor der Beförderungskommission des Senats freimütig zur Folter bekannt hatten. „Jenseits der begangenen Irrtümer“, so der dankbare Präsident damals, „verschwand der subversive Apparat.“

Während der Diktaturjahre von 1976 bis 1983 hatten die Militärs etwa 30.000 Menschen verschleppt, gefoltert, ermordet und ihre Leichen verschwinden lassen. Die Angehörigen der Opfer wissen vielfach bis heute nicht, was genau ihren Verwandten angetan wurde und wo sich deren Leichen befinden. Auch nach der Rückkehr zu einer zivilen Regierung stießen sie weiter vor eine Mauer des Schweigens und der Vertuschung. Eine Bestrafung für diese Verbrechen brauchte im Argentinien der Neunziger Jahre keiner der Täter des so genannten „Schmutzigen Krieges“ zu fürchten, denn zwei Gesetze und verschiedene Gnadenerlasse garantierten ihnen umfassende Straflosigkeit.
Nun saß der Marineoffizier Scilingo dem Journalisten Verbitsky gegenüber und war entschlossen auszupacken. Mehr noch als ein gewisses nachträgliches Unrechtsbewusstsein bewegten ihn die Darstellungen der Marineführung und der Regierung, in denen die nicht mehr bestreitbaren Diktaturverbrechen als Exzesse einer autonom agierenden Gruppe innerhalb der ansonsten untadeligen Marine dargestellt worden waren. „Glauben Sie vielleicht, dass wir eine Bande innerhalb der Marine gewesen seien, die aus eigenem Antrieb tätig war?“, fuhr Scilingo fort. „Kann eine Bande über die Einrichtungen der Marine verfügen und gar Flugzeuge fliegen?“ Und er legte Verbitsky eine Reihe von Schreiben vor, die er bereits zwischen 1991 und 1994 an den Chef des Generalstabs der Marine, an den ehemaligen  Juntachef Jorge Rafael Videla, an weitere hohe Militärs und an Präsident Menem gerichtet hatte.
An die Admiralität zum Beispiel appellierte Scilingo einzugestehen, dass die in der ESMA praktizierten „Methoden“ ganz regulär angewendet worden seien, „um den Feind festzuhalten, zu verhören und zu eliminieren. Während meiner Zeit in der ESMA habe ich Befehle von Vorgesetzten ausgeführt, die heute mit Zustimmung des Senates zu Admirälen aufgestiegen sind.“ Sollte die Admiralität seiner Forderung nicht nachkommen, hatte Scilingo gedroht, „eine tiefgehende rechtliche Untersuchung“ anzustoßen, „damit die Wahrheit endgültig über die Heuchelei triumphiert“. Nun wollte er seine Drohung wahr machen und auspacken.


Eigene Mittäterschaft

Verbitsky, der schon im Dezember 1976 über eine Untergrundnachrichtenagentur als erster Journalist über die ESMA und die aus Flugzeugen über dem Meer abgeworfenen Gefangenen berichtet hatte, sprang sofort eine Passage in Scilingos Brief an Juntageneral Videla ins Auge, die von der Beteiligung Scilingos an eben diesen „Todesflügen“ handelte. Der Journalist verstand sofort, welche einmalige Gelegenheit sich ihm unerwartet eröffnete. Nun konnte er sich Details dieser Verbrechen erstmals von einem Augenzeugen, ja von einem der Täter schildern lassen.
Mehrfach trafen sich der Journalist und der Militär zu Gesprächen, die Verbitsky aufzeichnen durfte. Am 2. März 1995 präsentierte Verbitsky einer schockierten Öffentlichkeit die Tonaufnahmen der Geständnisse Scilingos in Hora Clave , der einflussreichsten Nachrichtensendung des Landes, und veröffentlichte sie gleichzeitig in der Tageszeitung Pagina/12.

Neben zahlreichen Details zur Funktionsweise des Unterdrückungsapparates schilderte Scilingo dem Journalisten im Interview auch, er habe persönlich an zwei „Todesflügen“ teilgenommen. Er beschrieb im Detail, was mit den „Verschwundenen“ der ESMA passiert war, und sparte auch die Namen vieler Beteiligter nicht aus. Wann immer Verbitsky jedoch auf Scilingos Beobachtungen als Mittäter und Augenzeuge insistierte, versuchte dieser auszubrechen und auf sein eigentliches Anliegen, die Rehabilitierung des nicht beförderten Kameraden zurückzukommen. Doch so sehr Scilingo auch auszuweichen versuchte, Verbitsky führte ihn immer wieder auf das Thema der Todesflüge zurück.
Die Gefangenen, gestand der Korvettenkapitän widerstrebend „wurden informiert, dass sie in den Süden verlegt würden und dass man ihnen aus diesem Grund einen Impfstoff spritzen würde. Man gab ihnen eine Spritze …, ich will sagen, eine Dosis Beruhigungsmittel, um sie ein bisschen blöd im Kopf zu machen. […] Wir bestiegen zu zweit das Flugzeug […] und dann brachten sie die Subversiven, wie Zombies, ins Flugzeug. […] Man musste ihnen helfen. […] Nach dem Start verabreichte der Arzt, der an Bord war, ihnen eine weitere Dosis, ein sehr starkes Schlafmittel. Sie schliefen ganz ein. […] Bewusstlos zogen wir sie aus und wenn der Kommandant des Flugzeugs den Befehl gab, öffnete man die Tür und warf sie nackt hinaus. Einen nach dem anderen.“

Durch die beiden Todesflüge, an denen Scilingo selbst teilnahm, wurden dreizehn und siebzehn Gefangene ermordet. Nach Aussagen von Scilingo waren sämtliche Marinesoldaten, einschließlich derjenigen, die in der ESMA stationiert waren, an den Todesflügen beteiligt. Zwei Jahre lang, so schätzte er, startete jeden Mittwoch ein Flugzeug, aus dem fünfzehn bis zwanzig Menschen ins Meer geworfen wurden. Pro Flug waren zwei Offiziere, ein Unteroffizier, ein Gefreiter und ein Arzt an Bord.
Vor ihrem ersten Einsatz waren die Offiziere auf die Flüge vorbereitet worden. Scilingo erinnerte sich an eine Veranstaltung im Kino der Luftwaffenbasis Puerto Belgrano: „Im Hinblick auf die Subversiven erklärte er [Admiral Luis Maria Mendía] uns, sie seien zum Tode verurteilt […], dass sie fliegen würden, und so wie es Leute gibt, die Probleme haben, würden einige nicht am Ziel ankommen. Und er sagte, dass man die kirchlichen Autoritäten konsultiert habe, ich weiß nicht auf welcher Ebene, um sicherzustellen, dass dies eine christliche und wenig gewaltsame Form sei. […] Nach dem ersten Flug kostete es mich persönlich viel, das zu akzeptieren. […] Am nächsten Tag fühlte ich mich nicht gut und sprach mit dem Kaplan [der ESMA]. Er sagte zu mir, dass es sich um einen christlichen Tod handle, weil sie nicht litten, weil er nicht traumatisch sei, dass man sie eliminieren müsse, dass der Krieg eben der Krieg sei, dass selbst in der Bibel die Eliminierung des Unkrauts aus dem Weizenfeld vorgesehen sei.“


Der „Scilingo-Effekt“

Die Bekenntnisse Scilingos schlugen in der argentinischen Öffentlichkeit wie eine Bombe ein. Mit einem Mal war die totgeschwiegene Vergangenheit wieder das Tagesthema Nummer eins. Und das nicht nur für den Moment. Die Medien widmeten sich wieder den Verbrechen der Diktatur, und Verbitskys Buch „Der Flug“ wurde binnen kürzester Zeit zum Bestseller.
„Die Gesellschaft war gezwungen, sich mit der eigenen Verleugnung zu konfrontieren“, kommentierte der Menschenrechtsanwalt Emilio Mignone die Entwicklung, „das ist der einzige Weg für sie, um zu realisieren, dass dieser nett aussehende, gut gekleidete artikulierte Herr Scilingo, dieser Gentleman, der dein Nachbar eine Tür weiter sein könnte, […] der Schrecken selbst ist.“ Andere sahen die mediale Aufmerksamkeit kritischer. „In punkto Information“, erklärte Osvaldo Barros für die Organisation der ehemaligen Verhafteten und Verschwundenen, „hat Scilingo nichts Neues erzählt. Zahlreiche ZeugInnen sprachen […] über Transporte und Todesflüge. […] Jahrelang wollte dies keiner von uns hören, […] unsere Gesellschaft war jahrelang ein Hafen der Verdächtigungen gegenüber den Opfern, und plötzlich schenkt sie jetzt den Tätern Glauben. Warum?“

Nichtsdestotrotz nutzten die Menschenrechtsorganisationen die plötzlich entstandene öffentliche Aufmerksamkeit für das Thema. Einige forderten gegenüber Militär und Regierung die Herausgabe verlässlicher Listen, die die Namen der Verschwundenen enthalten und darlegen sollten, wann, wo und durch wen sie ermordet wurden.
Die Mütter der Plaza de Mayo hingegen verlangten auf ihren Spruchbändern und in ihren Erklärungen: „Wir wollen keine Listen mit Toten, sondern die Listen der Mörder“ und „Wir wollen keine Geständnisse der Mörder, wir wollen sie für immer im Gefängnis“ sehen. Am Eingang der ESMA befestigten die Mütter der Verschwundenen ein Transparent mit der Aufschrift „Schule der Folterer und Mörder“ und erklärten: „Wir hassen Euch mit der gleichen Stärke, mit der wir unsere Kinder lieben. […] Deshalb werden wir […] Scilingo den Prozess machen. […] wir werden der Welt zeigen, dass es keine Begnadigung gibt, keine Vergebung, keinen Befehlsnotstand und keinen Schlussstrich.“

Die Enthüllungen Scilingos und vor allem das öffentliche Interesse daran hatte Menem mitten im Wahlkampf getroffen. Der Präsident betitelte den ehemaligen Korvettenkapitän als „Gauner“, der „Salz in die alten Wunden“ streue. Gemeinsam versuchten Regierung und Militärführung, den lästigen Zeugen zu diskreditieren und einen Nachahmungseffekt zu verhindern. Öffentlich wurde das Gerücht verbreitet, Scilingo hätte Millionen Dollar aus Hollywood erhalten, was auf einige andere Offiziere jedoch eher als Anreiz für eigene Medienauftritte wirkte. Scilingo und seine Familie erhielten anonyme Drohungen. Als dieser schließlich trotzdem erklärte, „wir sollten alle im Gefängnis sitzen“, ließ ihn Menem verhaften, jedoch nicht etwa wegen der Verbrechen, die er gestanden hatte, sondern wegen einiger angeblich 1991 gefälschter Schecks. Hierzu bediente sich der Präsident eines gekauften Polizeizeugens und eines abhängigen Richters, denen Falschaussagen und Korruption später nachgewiesen wurden. Scilingo jedenfalls wurde für zwei Jahre inhaftiert, der Offiziersrang aberkannt und schließlich wurde er aus der Armee entlassen.
Den „Scilingo-Effekt“ aber, wie die Kaskade genannt wurde, die dessen Geständnisse in Gang gesetzt hatten, konnte Menem nicht mehr stoppen. Die Forderung nach der Bestrafung der Schuldigen sollte nicht mehr abreißen. Schritt für Schritt gelang es, so genannte „Wahrheitsprozesse“ zu initiieren, die Straflosigkeitsgesetze zu unterlaufen, sie ab 2001 vorerst auszuhebeln und vier Jahre später schließlich ganz zu Fall zu bringen.

Strafanzeigen gegen argentinische Militärs in Spanien

Eine wesentliche Rolle dabei spielten die Verfahren im europäischen Ausland. Am 24. März 1996, dem 20. Jahrestag des Militärputsches in Argentinien, erstattete der Vorsitzende der „Fortschrittlichen Staatsanwälte" in Spanien, Carlos Castresana, im Auftrag der Angehörigen von Verschwundenen Strafanzeige gegen zahlreiche Mitglieder des argentinischen Militärregimes wegen Völkermordes.
Zu dieser Zeit saß Scilingo noch wegen Scheckbetruges hinter Gittern. Als er schließlich freikam und gegenüber Angehörigen von Verschwundenen Opfer identifizierte, weitere Namen von Tätern nannte und über die Verbindungen des amtierenden Innenministers zu früheren Angehörigen der Militärdiktatur auspackte, wurde er am 19. September 1997 von zwei Unbekannten mitten im Stadtzentrum von Buenos Aires auf offener Straße entführt und misshandelt. Die in Zivil gekleideten Täter zeigten Scilingo ihre Polizeiausweise und zerrten ihn in einen Wagen der Marke Ford Falcon, wie ihn auch während der Diktatur die Geheimkommandos der Streitkräfte zum „Verschwindenlassen“ von Oppositionellen benutzt hatten. „Du wolltest also eine Anhörung, hier hast Du sie“, gaben sie dem Entführten zu verstehen und forderten ihn unter Androhung ernster Konsequenzen auf, nicht länger an der Vergangenheit zu rühren. Bevor sie Scilingo nach zwei Stunden im Süden von Buenos Aires aus dem Wagen warfen, fügten sie ihm mit einem Messer noch Schnittwunden im Gesicht zu, die die Initialen jener JournalistInnen ergaben, gegenüber denen der Ex-Militär den Pakt des Schweigens gebrochen hatte.

Gegen den Rat seiner Anwälte erklärte Scilingo, er werde sich nicht einschüchtern lassen, und setzte sich zwei Wochen später in ein Flugzeug nach Madrid. Er wolle sich der spanischen Justiz als Zeuge zur Verfügung stellen und hoffte dort auf ein Zeugenschutzprogramm. „Aus Respekt vor den Opfern und damit so etwas nie wieder stattfindet", wolle er nun „die ganze Wahrheit sagen“ – so Scilingo weiter, der einen hundert Seiten starken Bericht im Gepäck hatte, in dem er 158 Namen von Tätern ausgewiesen und sie schweren Menschenrechtsverletzungen zugeordnet hatte. Bei seiner Ankunft wurde er umgehend verhaftet und unter dem Vorwurf der Beteiligung an einem Völkermord in Untersuchungshaft genommen. „Gefangen in Spanien ist Scilingo sicherer als frei in Buenos Aires“, kommentierte damals Dionisia López Amado, von der Angehörigengruppe Verschwundener SpanierInnen in Argentinien (FDE).

Vor dem spanischen Untersuchungsrichter Baltasar Garzón gestand Scilingo nochmals, was er bereits Verbitsky und den argentinischen Medien erzählt hatte. Mindestens 4.400 Menschen wurden diesen Aussagen zufolge im Zuge der Todesflüge ermordet. „Zeigt Flagge“, erklärte er aus dem Gefängnis über Radio an die Adresse anderer Militärs. „Versteckt Euch nicht hinter der feigen Haltung der Marineführung.“

Die Aussagen des ehemaligen Marinekapitäns lieferten Garzón die nötigen Beweise, um im November 1999 internationale Haftbefehle gegen 98 Verantwortliche der ESMA zu erlassen. Ein Jahr später konnte daraufhin der Folterer Ricardo Miguel Cavallo in Mexiko verhaftet und im Mai 2003 an Spanien ausgeliefert werden, wo er derzeit wegen Völkermords und Terrorismus vor Gericht steht.


Widerrufe der bisherigen Aussagen

Ein Jahr verbrachte Scilingo in Untersuchungshaft, bevor er vorübergehend auf freien Fuß gesetzt wurde, das Land jedoch nicht verlassen durfte. Während dieser vorübergehenden Freilassung wandelte sich der aussagewillige Zeuge in einen Angeklagten, der die Zuständigkeit des Gerichtes anfocht und schließlich ab Anfang November 1999 sämtliche zuvor gemachten Aussagen leugnete. Er habe die Geständnisse frei erfunden, um dem ehemaligen Juntamitglied und Befehlshaber der Marine, Admiral Massera, zu schaden, erklärte Scilingo nun. Seine Aussagen seien Teil eines Komplotts von argentinischen Menschenrechtsorganisationen und Untersuchungsrichter Baltasar Garzón gewesen. Der Text seiner Geständnisse sei von diesen vorbereitet und nur von ihm vorgetragen worden. Auch das Buch über die Praxis der Folter in Argentinien, das unter seinem Namen erschienen sei, stamme von einem Ghostwriter. Er habe es nicht einmal gelesen. Nun habe Garzón ihn zu einer Falschaussage unter Eid nötigen wollen, die er aber verweigere, begründete Scilingo seinen plötzlichen Sinneswandel.

Was war passiert? Als er nach Spanien ging, hatte Scilingo auf eine Kronzeugenregelung gehofft, die ihm Untersuchungsrichter Garzón jedoch verweigerte. Obendrein gewährte der spanische Staat dem Freigelassenen keinerlei finanzielle Unterstützung. Mittellos wohnte er bei einem Priester, als der chilenische Geheimdienst auf ihn aufmerksam wurde und ihn unter Druck setzte, die Kooperation mit dem Gericht aufzugeben und seine Aussagen zurückzuziehen. Im Gegenzug kümmerte die Botschaft sich um einen hochkarätigen Anwalt. Eigentliches Ziel dieses Manövers war es, die Legitimität der spanischen Prozesse generell in Frage zu stellen und damit ein anderes Verfahren zum Scheitern zu bringen, in dem Untersuchungsrichter Garzón zeitgleich die Auslieferung des chilenischen Ex-Diktator Pinochet beantragt hatte.

Während die Gerichte über die Zuständigkeit der spanischen Justiz stritten, spielten jedoch die zahlreichen Aussagen, die der schweigende Ex-Zeuge zwischen 1991 und 1999 in Briefen und Interviews, in schriftlichen und mündlichen Geständnissen sowie über zahlreiche Medien gemacht hatte, weiter eine wesentliche Rolle in den spanischen Argentinienprozessen.
Auch Horacio Verbitsky übergab Untersuchungsrichter Garzón die Tonbandaufzeichnungen seiner Gespräche mit Scilingo zwischen 1994 und 1995 in einer Gesamtlänge von sechs Stunden, sowie Kopien der Briefe an die Marineleitung, Ex-Diktator Videla und Präsident Menem, die Scilingo Verbitsky bei seinem ersten Besuch übergeben hatte.

Prozess und Urteil

Am 20. November 2004 entschied eine Strafkammer des Madrider Obersten Gerichtshofes endgültig die Zuständigkeit der spanischen Justiz und der Prozess gegen Scilingo konnte vor der Audiencia Nacional eröffnet werden. Zwischen dem 14. Januar und dem 30. März 2005 wurden mehr als 70 ZeugInnen gehört, unter ihnen auch die Präsidentin der Mütter der Plaza de Mayo, Hebe de Bonafíni, der Generalsekretär des Gewerkschaftsdachverbands CTA, Víctor de Gennaro, Überlebende der ESMA, wie Graciela Daleo, der Journalist Horacio Verbitsky, die Präsidentin der Großmütter der Plaza de Mayo, Estela de Carlotto, und die Schwester des argentinischen Botschafters in Spanien, Marta Bettini. Sie wurden von Argentinien aus per Videokonferenz zugeschaltet.

Am 7. März 2005 forderte die Staatsanwaltschaft 9.138 Jahre Haft für Scilingo. Staatsanwältin Dolores Delgado beschuldigte ihn in ihrem Plädoyer des Terrorismus, des Völkermordes, des Mordes in 30 Fällen, des Verschwindenlassens von 255 Opfern, der Folter in 93 Fällen und verschiedener Körperverletzungen. Für den Fall, dass sich das Gericht dem Vorwurf des Völkermordes nicht anschlösse, beantragte Delgado alternativ die Verurteilung wegen Verbrechen gegen die Menschheit.

Am 19. März 2005 verkündete die Audiencia Nacional ihre Entscheidung. „Das Gericht verurteilt Adolfo Scilingo, nach Artikel 607 des aktuell gültigen Strafgesetzbuches, als verantwortlichen Täter eines Verbrechens gegen die Menschheit“, trug Richter José Ricardo de Prada vor. Das Verbrechen gegen die Menschheit setzte sich zusammen aus 30 Fällen von Mord, derer Scilingo wegen seiner Beteiligung an den Todesflügen für schuldig befunden worden war, sowie aus dem Delikt der illegalen Festnahme, wegen seiner Teilnahme an einer Entführung im Jahr 1977, mit anschließendem Verschwindenlassen des Verschleppten. Außerdem hielt das Gericht seine Beteiligung an der Beseitigung von Leichen von in der ESMA ermordeten Gefangenen für erwiesen, ebenso wie seine grundsätzliche Mitwisserschaft über die Folterungen in der ESMA. Bei mindestens einer Folterung sei er Zeuge gewesen. In der 209 Seiten starken Urteilsbegründung bezog sich das Gericht hauptsächlich auf Scilingos eigene Aussagen. Er wurde zu 640 Jahren Gefängnisstrafe verurteilt, die sich aus je 21 Jahren für jeden Mord und zweimal fünf Jahren für illegale Festnahme und Folter zusammensetzten. Als das Gericht das Urteil verlas, brach das Publikum im Saal in spontane Beifallsstürme und Zwischenrufe wie „Mörder verfaule“ aus.

Scilingos AnwältInnen legten Widerspruch gegen das Urteil ein, und am 4. Juli 2007 entschied der Oberste Gerichtshof Spaniens. Mit 10:5 Stimmen wurde Scilingo erneut für schuldig befunden. Das Gericht erhöhte die Gefängnisstrafe auf 1.084 Jahre. Für jeden der 30 Morde erhielt Scilingo zwar nur noch 19 Jahre und auch die Haftstrafe für die illegale Festnahme reduzierte sich auf vier Jahre. In Bezug auf die Foltervorwürfe wurde Scilingo sogar freigesprochen. Hinzu kam jedoch die Komplizenschaft am Verschwindenlassen von 255 Personen, die mit zwei Jahren je Entführung bestraft wurde. Jedes dieser Verbrechen stelle ein Verbrechen gegen die Menschheit dar, hieß es in einem von Seiten des Gerichtes verteilten Text. Den Tatvorwurf des Genozids, der von Seiten der Kläger und von Untersuchungsrichter Baltasar Garzón erhoben worden war, wiesen beide Instanzen zurück.


Scilingo ist der erste Ausländer, der in Spanien aufgrund des Weltrechtsprinzips rechtskräftig für Verbrechen gegen die Menschheit verurteilt wurde, die in einem anderen Land gegen Bürger Spaniens sowie anderer Länder begangen wurden. Dass er den Pakt des Schweigens brach und über die Verbrechen aussagte, entlässt ihn nicht aus der rechtlichen und moralischen Verantwortung für diese Taten.

Beide Instanzen entschieden sich für ein Strafmaß, das die Lebenszeit eines Menschen vielfach überschreitet. Die Heraufsetzung der Haftdauer in der zweiten Instanz hat – auch vor dem Hintergrund einer maximal 25jährigen realen Haftdauer – nur symbolischen Wert. Angesichts dessen erweist sich erneut die Aktualität einer Erkenntnis, die Hanna Arendt bereits am 17. August 1946 in einem Brief an Karl Jaspers formulierte:
„Diese Verbrechen lassen sich, scheint mir, juristisch nicht mehr fassen, und das macht gerade ihre Ungeheuerlichkeit aus. Für diese Verbrechen gibt es keine angemessene Strafe mehr […]. Das heißt, diese Schuld, im Gegensatz zu aller kriminellen Schuld, übersteigt und zerbricht alle Rechtsordnungen.“


Knut Rauchfuss, August 2007

▲ zum Seitenanfang