Von Bianca Schmolze
Willem Helm Coetzee kann sich bisher in Sicherheit wiegen. Zwar hatte
die Wahrheits- und Versöhnungskommission TRC seinen Antrag auf
Amnestie abgelehnt und so eine strafrechtliche Verfolgung
ermöglicht. Doch gab die Regierung im Januar 2006 eine
Veränderung der nationalen Anklagepolitik bekannt, die
Verantwortlichen für Verbrechen gegen die Menschheit, die
während der Apartheid begangen wurden, unter Ausschluss der
Öffentlichkeit Straffreiheit gewähren soll.
Während der Apartheid war Coetzee als Geheimdienstkommandeur in
Soweto unter anderem verantwortlich für das Verschwindenlassen von
Nokuthula Aurelia Simelane, die Anfang der Achtziger Jahre von
Sicherheitskräften verhaftet, gefoltert und dann verschleppt wurde.
In ihrem Abschlussbericht hatte die TRC empfohlen, gegen all jene
Täter Strafprozesse einzuleiten, deren Antrag auf Amnestie von der
Kommission abgelehnt worden war oder die nie einen solchen gestellt
hatten. Doch seither zeigt die südafrikanische Regierung keinerlei
politischen Willen zu deren Umsetzung. Stattdessen unternimmt sie
alles, um die Straffreiheit noch zu festigen. Da jedoch eine
Generalamnestie gegen internationale Verpflichtungen verstoßen
würde, sollen Gerichtsprozesse nun auf bürokratischem Weg
blockiert werden.
Der Nationalen Anklagebehörde NPA wurde daher das Mandat
übertragen, Tätern Straffreiheit zu gewähren, wenn diese
sich bereit erklären, umfassend zu gestehen und ein politisches
Motiv für das Verbrechen nachweisen können. Darüber
hinaus sollen Faktoren wie die Schwere des Verbrechens, die Rolle des
Täters während des Prozesses der Wahrheitskommission, die
Frage, ob ein Prozess die innergesellschaftliche Versöhnung
behindern oder eine Retraumatisierung der „Opfer“ bewirken
könnte, in den Entscheidungsprozess der NPA einfließen.
KritikerInnen befürchten jedoch, dass nun auch noch jene
Täter straffrei bleiben werden, die nie einen Amnestieantrag vor
der TRC eingereicht haben bzw. deren Anträge abgelehnt wurden, in
deren Fällen klare Beweise vorlagen und die Schwere des
Verbrechens nachgewiesen werden konnte.
Die Amnestieregelung der Wahrheitskommission beruhte auf den
Verhandlungen für einen demokratischen Übergang
Südafrikas zu Beginn der Neunziger Jahre. In dem Gesetz zur
Förderung der Nationalen Einheit und Versöhnung von 1995
wurden Amnestien für politisch motivierte Verbrechen
festgeschrieben, jedoch zwingend an das Mandat der Wahrheitskommission
gekoppelt. Insgesamt wurden über 7.000 Amnestieanträge
gestellt, von denen jedoch nur 900 zugestimmt wurde. Die Mehrzahl der
Anträge musste abgelehnt werden, da es sich um kriminelle Delikte
handelte, die nicht in das Mandat der TRC fielen. Die Mehrzahl der
Verantwortlichen für politisch motivierte Verbrechen gegen die
Menschheit hat sich der Kommission nie gestellt. Die wenigen, die mit
der TRC kooperierten, profitierten allerdings fast vollzählig von
einer Amnestie.
Die Mehrzahl der Täter genießt somit eine Straffreiheit, die
ihnen geschenkt wurde, ohne dass sie jemals in irgendeiner Form
Rechenschaft leisten brauchten. Überlebende und Angehörige
von Opfern fordern daher mit Nachdruck die Beendigung der
Straflosigkeit.
Die von der Regierung Anfang 2006 veränderten Richtlinien für
die Arbeit der Anklagebehörde ermöglichen zwar die
Eröffnung von Ermittlungsverfahren, diese sollen jedoch nicht zu
Gerichtsprozessen führen. Täter werden stattdessen
aufgefordert, ihr Wissen hinter geschlossenen Türen preiszugeben,
um dann keine weiteren rechtlichen Schritte gegen sie befürchten
zu müssen. Um diese Praxis als verfassungswidrig anzufechten,
reichten Überlebende und Angehörige von Opfern der Apartheid
am 19. Juli 2007 Klage ein gegen Anklagebehörde sowie
Justizministerium.
Zu den KlägerInnen zählt auch die landesweit
größte Überlebenden-Organisation Khulumani Support
Group. Die Organisation hatte sich 1995 anlässlich der Einrichtung
der TRC gegründet und vertritt heute mehr als 50.000
Überlebende und Angehörige von Opfern der Apartheidverbrechen.
„Khulumani“ ist ein Wort aus der Zulu-Sprache und bedeutet
auf Deutsch „frei sprechen“ – bis heute Programm der
Organisation, denn oftmals verbleiben Überlebende von Folter und
anderen schweren Menschenrechtsverletzungen mit ihren Erinnerungen
alleine. Sie halten sie für unaussprechbar, weil die unglaubliche
Dimension des Erlebten von der umgebenden Gesellschaft scheinbar kaum
geglaubt werden kann, und nicht zuletzt, weil sie selbst erhoffen, ihre
Erinnerungen erfolgreich verdrängen zu können.
Diese Sprachlosigkeit möchte Khulumani durchbrechen. Zu Beginn
ihrer Arbeit konzentrierte sich die Organisation daher vor allem
darauf, möglichst viele Überlebende und Angehörige von
Opfern dazu zu bewegen, sich am Prozess der TRC zu beteiligen. Unter
dem Motto „Opfer organisieren Opfer“ haben sich landesweit
Gruppen gebildet, die nach dem Konzept des Pfarrers Michael Lapsley
„Healing of Memories“ Zusammenkünfte organisierten, um
die traumatischen Erlebnisse miteinander zu teilen. Auch mit
Theaterstücken und Filmen wie „Zulu Love Letter“
versuchte Khulumani, Menschen von der Wichtigkeit der TRC zu
überzeugen. Damit sorgte sie für eine breitere Akzeptanz und
Beteiligung am Prozess der Wahrheitsfindung, als es vielleicht ohne die
Arbeit von Khulumani der Fall gewesen wäre.
Andererseits stand die Organisation der Wahrheitskommission stets
kritisch gegenüber. „In der traditionellen
südafrikanischen Rechtsprechung existiert keine Amnestie“,
erklärt die Vorsitzende von Khulumani, Marjorie Jobson. „Die
Verantwortung für begangene Verbrechen trägt man sein Leben
lang, und auch die Nachfolgegeneration ist von ihr nicht
freigesprochen.“
Die Entscheidung, sich am Prozess der TRC zu beteiligen, stellte daher
einen schwerwiegenden Kompromiss von Seiten der Überlebenden und
der Angehörigen von Opfern dar. Im Gegenzug bestanden sie darauf,
eine zentrale Rolle im Prozess der Wahrheitsfindung und Amnestierung
der Täter zu spielen. Doch fällten die RichterInnen des
Amnestiekomitees die Entscheidung in der Regel ohne jegliche
Konsultation. Auch Entschädigungszahlungen, die im Gegensatz zu
den Amnestien nicht gesetzlich verankert waren, jedoch eine Art
Gegengewicht zu den Amnestien darstellen sollten, lassen bis heute auf
sich warten.
Doch haben gerade die Empfehlungen der TRC in Bezug auf
Entschädigungen und strafrechtliche Verfolgung der Täter bei
Überlebenden und Angehörigen von Opfern überhaupt erst
Erwartungen ausgelöst. Daher verlagerte Khulumani seine Arbeit in
der Folge zunehmend auf die Forderung nach Entschädigungen und
strafrechtlicher Verfolgung der Täter. So erklärte Duma
Khumalo, im vergangenen Jahr verstorbenes Gründungsmitglied von
Khulumani, im November 2000: „Wir haben uns doch nicht
vorgedrängelt, um Geld zu fordern. Die Regierung und die
Kommission haben uns von sich aus Entschädigung angeboten. Sie
haben uns Hoffnung gemacht - und jetzt zahlen sie nichts."
Angesichts der elenden sozio-ökonomischen Lebensbedingungen
für Überlebende und Angehörige von Opfern, die sich seit
Beendigung der Apartheid in der Regel nicht geändert haben,
wären Entschädigungen jedoch für viele von elementarer
Bedeutung. Dies gilt nicht nur für unmittelbar finanzielle
Reparationsleistungen. Organisationen wie Khulumani fordern
darüber hinaus symbolische Entschädigungen sowie einen
verbesserten Zugang zu Gesundheit und Bildung. Doch soll nicht nur die
südafrikanische Regierung verantwortlich sein für die
Bereitstellung der Mittel, sondern auch die internationalen Profiteure
des Apartheidregimes, die eine Mitverantwortung für die
Aufrechterhaltung und somit auch für deren Verbrechen tragen. Zu
diesem Zweck haben Mitglieder von Khulumani im Jahr 2002 in den USA
Klage gegen insgesamt 23 multinationale Konzerne und Banken
eingereicht, die von der Apartheid maßgeblich profitiert hatten.
Nachdem die Klage zunächst als belanglos und wegen Mangels an
Beweisen abgelehnt wurde, steht eine Entscheidung des
Berufungsverfahrens noch aus.
Nun versucht Khulumani auf nationaler Ebene, die Straflosigkeit
für Verbrechen während der Apartheid gerichtlich anzufechten.
Gemeinsam mit Angehörigen der ermordeten Nokuthula Aurelia
Simelane und unter dem Namen „Cradock Four“ bekannt
gewordenen ANC-Aktivisten sowie mit dem Centre for the Study of
Violence and Reconciliation (CSVR) und dem International Center for
Transitional Justice (ICTJ) klagt die Organisation gegen
Anklagebehörde, Justizministerium sowie gegen die Verantwortlichen
für die Verbrechen an Simelane und den „Cradock Four“,
darunter auch Willem Helm Coetzee.
Die KlägerInnen argumentieren, dass mit den neuen Richtlinien
für die NPA von staatlicher Seite versucht würde, die
Amnestieregelungen der TRC auf das Gerichtswesen zu übertragen,
jedoch mit dem wesentlichen Unterschied, dass dieser Prozess unter
Ausschluss der Öffentlichkeit und der öffentlichen Kontrolle
stattfinden soll. Damit liegt es in der Hand der Anklagebehörde zu
entscheiden, ob ein Verfahren eröffnet wird oder nicht. Auch die
von den Tätern gewonnen Informationen werden nicht öffentlich
gemacht, so dass Beweise für zukünftige Klagen nicht
verfügbar sind. Gerichtsprozesse gegen Verantwortliche für
schwere Menschenrechtsverletzungen, wie beispielsweise im Fall der
„Cradock Four“, würden so unmöglich gemacht und
den Tätern demnach mehr Schutz zugebilligt als Überlebenden
und Angehörigen von Opfern. Damit sei die Gleichwertigkeit von
Tätern und „Opfern“ vor der Justiz nicht
gewährleistet.
Zudem verstoße die Regelung der NPA gegen internationales sowie
nationales Recht, wie dem Internationalen Abkommen für Zivile und
Politische Rechte und der Konvention gegen Folter und andere grausame
und unmenschliche Behandlung, zu deren Einhaltung Südafrika jedoch
verpflichtet ist.
Während der Amnestieprozess der TRC noch
verfassungsgemäß war, da weitere strafrechtliche
Verfolgungen nicht allgemein ausgeschlossen wurden, gilt dies nicht
für die neuen Richtlinien der NPA. Diese lassen obendrein
vermuten, dass nur eine bürokratische Lösung gefunden werden
sollte, um den Gesetzesweg für eine verfassungswidrige
Generalamnestie zu umgehen.
Der Mitte August abgeschlossene Prozess gegen den ehemaligen
Polizeiminister Adriaan Vlok sowie gegen Ex-Polizeichef Johan van der
Merwe machte diese Politik deutlich. Zwar wurden die Angeklagten wegen
des versuchten Mordes an dem ehemaligen Generalsekretär des
Südafrikanischen Kirchenrates Frank Chikane formell zu zehn Jahren
Haft verurteilt, doch wurde ihre Bestrafung auf Initiative der
Anklagebehörde zur Bewährung ausgesetzt.
„Die veränderte Politik bedeutet einen Verrat an all jenen,
die in gutem Glauben an dem Prozess der TRC teilgenommen haben. Sie
untergräbt die Basis der südafrikanischen TRC, Amnestien
gegen Geständnisse für einen spezifischen und limitierten
Zeitraum zu gewähren. Die Politik der Anklagebehörde
verrät daher die Interessen der Opfer, die auf die strafrechtliche
Verfolgung all jener warten, deren Antrag auf Amnestie abgelehnt wurde
oder die nie einen solchen Antrag gestellt hatten. Doch ist diese
Politik auch ein Verrat an den Tätern, die in gutem Glauben an dem
öffentlichen Prozess der Wahrheitsfindung teilnahmen, während
Täter jetzt hinter geschlossenen Türen ihr Wissen preisgeben
können ohne Prozesse noch öffentliche Scham zu
fürchten“, so Marjorie Jobson von Khulumani.
Auch Erzbischof Desmond Tutu verhandelt über eine Rücknahme
der NPA-Richtlinien. Es bleibt abzuwarten, wie die Regierung in den
nächsten Wochen reagieren wird und ob die Verhandlungen
tatsächlich eine Rücknahme der NPA-Richtlinien bewirken
können. Andernfalls werden die Gerichte darüber entscheiden,
ob sie die Klage von Khulumani annehmen und ein Verfahren gegen die
Regierung einleiten. Bis zu einer endgültigen Entscheidung
bemühen sich die KlägerInnen und Bischof Tutu um ein
Moratorium, um die Anwendung der Richtlinien aufzuschieben.
Bianca Schmolze,
Projektleitung „Gerechtigkeit heilt“, August 2007