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Anfang vom Ende der Straflosigkeit?

Türkei nimmt Netzwerk staatlicher Auftragskiller in Haft

Von Knut Rauchfuss

Als die Sondereinheit der Istanbuler Anti-Terror-Polizei am Morgen des 22. Januar 2008 an die Tür des Harbiye-Appartement klopfte, um Ex-General Veli Küçük festzunehmen, versuchte der pensionierte Militär im Inneren seiner Wohnung fieberhaft mit seinem Mobiltelefon acht verschiedene einflussreiche Kontaktpersonen zu erreichen, die ihn vor der Festnahme schützen sollten – doch ohne Erfolg. Diesmal erhielt Küçük nicht die erhoffte Unterstützung von ganz oben. Die Polizei öffnete die Wohnung und führte den hochrangigen Militär ab.

Der Name Veli Küçük ist in der Türkei kein unbekannter. Seit fast zwölf Jahren wird der ehemalige Mitbegründer des Geheimdienstes der Gendarmerie mit dem so genannten „tiefen Staat“ in Verbindung gebracht, jener Operationseinheit aus Geheimdiensten, paramilitärischen Todesschwadronen und organisiertem Verbrechen, auf deren Konto u. a. während der Neunziger Jahre der schmutzige Krieg gegen kurdische Politiker, JournalistInnen, MenschenrechtsaktivistInnen und andere Oppositionelle ging.

Es war am 3. November 1996 als der „tiefe Staat“, im Zuge eines Autounfalls, für alle sichtbar ans Licht der Öffentlichkeit getragen wurde. Damals verunglückte in einem PKW in der Nähe der Kleinstadt Susurluk der international gesuchte Auftragskiller Abdullah Catlı, ein hoher Polizeichef, eine Schönheitskönigin und ein kurdischer Anführer staatstreuer Paramilitärs, der den Unfall als einziger überlebte. Brigadegeneral Küçük ordnete seinerzeit sogleich den Abtransport der Leichen an, es gelang ihm jedoch nicht mehr, die auf den Unfall folgenden Enthüllungen aufzuhalten, die die Presse und ein Untersuchungsausschuss in den Folgemonaten ans Licht brachten. Am 11. April 2002 verurteilte ein Istanbuler Gericht zwei ehemalige Geheimdienstoffiziere zu je sechs, und zwölf weitere Angeklagte zu je vier Jahren Haft. Die eigentlichen Köpfe aber blieben unangetastet. Susurluk wurde damals zum Synonym für die organisierte Zusammenarbeit zwischen Staat und organisiertem Verbrechen und u. a. der Name Küçük zum Sinnbild für die Straflosigkeit der Verbrechen des „tiefen Staates“.1 
Und auch während des vergangenen Jahrzehnts tauchte der Name Veli Küçük stets im Zusammenhang mit ungeklärten Morden oder Bombenattentaten auf, nie als unmittelbarer Täter, doch stets als der Drahtzieher im Hintergrund, geschützt durch Rang und Einfluss.

Küçüks Unantastbarkeit scheint seit Beginn dieses Jahres vorläufig ein Ende gefunden zu haben. Der konspirierende Pensionär sitzt nun hinter Gittern und wartet auf seinen Prozess und mit ihm derzeit 38 weitere Verdächtige, die beschuldigt werden, eine Reihe von Attentaten durchgeführt, in Auftrag gegeben oder vorbereitet zu haben, die den Boden für einen Umsturz bereiten sollten. Sie alle sollen einem Terrornetzwerk des „tiefen Staates“ mit dem mythischen Namen Ergenekon angehören. „Ergenekon“, so bezeichnet die Legende ein Tal, das keine geographische Entsprechung hat und in dem türkische Nationalisten den Ursprung ihres Volkes verorten. Unter der Führung einer grauen Wölfin, soll der Siegeszug des Türkentums von Ergenekon aus seinen Anfang genommen haben.

Berichten der türkischen Presse zufolge gab sich die gleichnamige Geheimorganisation 1999 ihre Satzung für das 21. Jahrhundert. Diese wurde im Zuge der Verhaftungen sichergestellt und handelt von der „Verteidigung des Kemalismus“ gegen „fremde Mächte, kurdische Separatisten und türkische Intellektuelle“. Zur Verwirklichung ihrer Ziele soll die Organisation u. a. Attentate auf Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan, auf die prominenten kurdischen PolitikerInnen Osman Baydemir, Leyla Zana, Sebahat Tuncel und Ahmet Türk, auf den regierungsnahen Journalisten Fehmi Koru sowie auf den türkischen Literatur-Nobelpreisträger Orhan Pamuk geplant haben. Eine entsprechende Liste, mit dem Titel „Speiseplan“, wurde ebenfalls beschlagnahmt. Für ein Attentat auf Pamuk sollen bereits 1,7 Millionen US-Dollar bereitgestellt und zwei Attentäter angeheuert worden sein. Auch die Sprengung einer Brücke sei in Kooperation mit zwei Angehörigen der kurdischen „Freiheitsfalken“ geplant worden.

Die Polizeioperation gegen Ergenekon wurde gleichzeitig in sechs türkischen Großstädten durchgeführt. Mit Küçük wurde in der Türkei zum ersten Mal ein General durch die zivile Justiz festgenommen. Unter den übrigen Verhafteten fanden sich Anwalt Kemal Kerinçsiz, der zahlreiche Intellektuelle, wie z. B. Orhan Pamuk oder den armenischen Journalisten Hrant Dink, wegen „Beleidigung des Türkentums“ vor Gericht brachte, und Ex-Hauptmann Fikri Karadağ, der Chef der ultranationalistischen „Vereinigung für die Union der Patriotischen Kräfte“ (VKGB). Er  soll den Killer für das geplante Pamuk-Attentat angeworben haben. Auch Karadağs Freund Erkut Ersoy ist unter den Verhafteten, er ist Chef eines so genannten privaten Spezialbüros für Geheimdienste. Außerdem wurden Paşa Ümit Erenol, Oberhaupt des so genannten Türkisch-Orthodoxen Patriarchats, und dessen Schwester Sevgi festgenommen. Ebenso die Auftragskiller Sami Hoştan und Ali Yaşak, Schlüsselfiguren der Ereignisse von Susurluk, verschiedene pensionierte Militärs und zwei Mitglieder der VKGB. Güler Kömürcü, Kolumnistin der Zeitung Akşam, sowie Rechtsanwalt Fuat Turgut, der den Täter und die Urheber des Mordes an Hrant Dink vor Gericht verteidigt, wurden nach einigen Tagen wieder freigelassen.

Die Ermittlungen, die Staatsanwalt Zekeriya Öz gegen Ergenekon eingeleitet hat, gehen auf einen Waffenfund vom 12. Juni 2007 zurück. Damals wurden in einem Haus im Istanbuler Stadtteil Ümraniye 27 Handgranaten und andere Sprengstoffe sichergestellt. Zwei dort Verhaftete gaben an, die Waffen durch den ehemaligen Offizier Oktay Yildirim erhalten zu haben. Der Polizei gelang es, Verbindungen zwischen Yildirim und dem Ex-Offizier Muzaffer Tekin herzustellen, der bereits im Vorjahr, im Zuge der Ermittlungen wegen des Bombenattentats gegen die Istanbuler Redaktion der kemalistischen Tageszeitung Cumhuriyet und wegen des Mordanschlags auf einen Verwaltungsrichter in Ankara, kurzzeitig festgenommen worden war. Zusammen mit zwölf anderen wurden im Sommer 2007 auch Yildirim und Tekin inhaftiert. Nach den Waffenfunden mehrten sich die Verbindungslinien zwischen Yildirim, Tekin und dem Bombenanschlag, denn die in Ümraniye sichergestellten Handgranaten waren aus derselben Serie wie die gegen Cumhuriyet eingesetzte.

Doch nicht nur die Kontakte zu Tekin und die Seriennumern der Handgranaten verbinden Ergenekon mit dem Anschlag auf Cumhuriyet. Medien veröffentlichten auch Fotos von Küçük, die diesen neben dem Rechtsanwalt Alparslan Arslan zeigen. Arslan, der zugleich auch am 17. Mai 2006 den Verwaltungsrichter Mustafa Yücel Özbilgin erschossen hatte, hatte sich im Vorjahr als unmittelbarer Täter des Anschlags auf Cumhuriyet bekannt. Damals gab er religiöse Motive für beide Taten an und bezog sich auf eine Karikatur in der Zeitung, auf der ein Schwein mit einem Kopftuch abgebildet gewesen sei, sowie auf ein Urteil, dass die Kammer des Verwaltungsgerichtes zuvor im Kopftuchstreit verkündet hatte. Beides habe Arslan nach eigenen Angaben in seinem religiösen Empfinden derart empört, dass er die entsprechenden Taten begangen habe.

Mit den Waffenfunden in Ümraniye und der Aufdeckung des Ergenekon Netzwerkes stellt sich das Tatmotiv jedoch weitaus weltlicher dar. Es liegt nunmehr nahe, das Ergenokon die Taten beauftragte, um islamistische Kreise und damit die AKP-Regierung zu beschuldigen, um genau jene Massenproteste auszulösen, die die Folgemonate bestimmten.

In das gleiche Muster passt auch der Mord an dem italienischen Priester Andreas Santoro, der im Februar 2006 von einem Jugendlichen in Trabzon erschossen worden war, angeblich aus Empörung über die dänischen Mohammad-Karikaturen. Spuren einer von Trabzon aus operierenden Bande weisen jedoch auf Verbindungen ebenso zum Waffenfund in Ümraniye, wie auch zu dem Mord an dem armenischen Journalisten Hrant Dink am 19. Januar 2007.

Auch das Malatya Massaker vom 18. April 2007, bei dem drei christliche Missionare zu Tode gefoltert wurden, erscheint in diesem Kontext in einem neuen Licht. Als Drahtzieher werden mehr und mehr die gleichen Namen wie bei der Ermordung von Hrant Dink genannt, und Anwalt Orhan Kemal Cengiz, der den Fall untersucht, muss um sein Leben fürchten und steht unter Personenschutz.

„Ergenekon ist nur die Spitze der Spitze des Eisberges“, kommentiert Anwalt Cengiz die Festnahmen. Und türkische Zeitungen berichteten, die von Ergenekon durchgeführten und geplanten Attentate sollten die Stimmung für einen Militärputsch gegen die islamisch-konservative AKP-Regierung schaffen. Ein entsprechender sechsstufiger Plan sei auf Küçüks Computer gefunden worden.

Damit erhalten Veröffentlichungen aus dem vergangenen Jahr neue Nahrung. Damals publizierte die Wochenzeitung Nokta die ihr zugespielten Tagebücher von Admiral Özden Örnek, in denen sich detaillierte Aufzeichnungen über zwei in den Jahren 2003 und 2004 geplante Putschversuche fanden, die später aus strategischen Gründen verworfen worden waren. Vier hohe Generäle waren in die Putschpläne involviert. Nokta musste nach der Veröffentlichung schließen, und Herausgeber Alper Görmüş erwartet eine mehrjährige Haftstrafe.

„Wenn sie auf einen Militärputsch abzielten, wer würde diesen Putsch ausführen?“, fragt sich daher nicht nur Zaman-Kolumnistin Ayşe Karabat hinsichtlich des Ergenekon-Planes.

„Die eine Million-Dollar Frage: Wer ist der Boss von Ergenekon“, titelte ihre Zeitung am 31. Januar. Spekulationen kreisen dabei vor allem um jene Generäle, die in den Militärputsch von 1997 verwickelt waren. Kolumnist Kerim Balci hingegen überlässt seien LeserInnen die Entscheidung: „Spiel das Spiel selbst“, rät er, „Füll einfach die Leerstellen mit Namen aus: ‚… ist der Anführer der Ergenekon-Bande.’ Wann beginnt Deine Stimme schwach zu werden? Wann wirst Du ängstlich den Namen auszusprechen?“

Einer, den keiner öffentlich zu nennen gewagt hatte, äußerte sich selbst. Generalstabschef Yaşar Büyükanit distanzierte sich auf einer Pressekonferenz von Ergenekon. „Die Streitkräfte sind keine kriminelle Organisation“, erklärte er. „Diejenigen, die Fehler begangen haben, werden sich vor Gericht verantworten, auch wenn sie Angehörige der Streitkräfte sind.“

Wie sehr Büyükanit lügt, zeigte sich zwei Jahre zuvor im Şemdinli-Prozess, als er selbst zu den Beschuldigten gehörte. Am 9. November 2005 hatten drei Attentäter in einem Buchladen der kurdischen Kleinstadt Şemdinli eine Bombe gezündet und den Besitzer ermordet. PassantInnen gelang es, die drei Attentäter festzuhalten. Zwei standen im Dienst des Militärs, der Dritte war ein Überläufer der PKK. Sie wurden der Polizei übergeben. In ihrem Tatfahrzeug wurden weitere Beweise gefunden. Auf den Staatsanwalt und einen lokalen Abgeordneten der CHP, die den Fall untersuchten, wurde noch am selben Tag geschossen. Dabei wurde ein unbeteiligter Passant getötet. Während einer Protestwelle, die in den folgenden Tagen ganz Kurdistan erfasste, starben drei weitere Menschen.

Staatsanwalt Ferhat Sarikaya, der die Verbindungen der Attentäter bis weit in die Spitzen des Militärs untersuchte, nahm in seine Anklageschrift auch den damaligen Armeechef Büyükanit und weitere hohe Militärs auf. Büyükanit hatte die Attentäter öffentlich als „gute Kerle“ bezeichnet. Sarikaya wurde umgehend von dem Fall entbunden und aus der Kammer der Staatsanwälte und Richter entlassen. Heute bedient er im Supermarkt seines Schwiegervaters. Die in erster Instanz von einem Zivilgericht zu 39 Jahren verurteilten Täter wurden anschließend von einem Militärgericht freigesprochen.

In diesem Setting sind Zweifel an den Versprechungen Erdoğans, mit dem „tiefen Staat“ abzurechnen, durchaus angebracht. Nur mit viel Optimismus lassen sie einen Anfang vom Ende der Straflosigkeit erhoffen. Die Gefahr eines Militärputsches ist dadurch noch lange nicht gebannt. Lediglich temporär hat die Polizeioperation den „tiefen Staat“ in die Defensive gebracht. In vielerlei Hinsicht macht ihn das nun noch gefährlicher. Auch der von Ergenekon als Anschlagsziel ausgesuchte Kolumnist Fehmi Koru fühlt sich an die Situation im Vorfeld vormaliger Militärputsche erinnert: „Die Situation in diesem Land ist wieder reif für politische Morde und Anschläge, doch dank der Ergenekon-Operation verstecken sich die Mörder und Attentäter derzeit in ihren Höhlen.“ Es ist eine Frage der Zeit, wann und wie sie wieder hervortreten.

(erschienen in: analyse und kritik  526, März 2008)



[i] Zu den nach dem Unfall bekannt gewordenen Verbindungen zwischen türkischem Staat und organisiertem Verbrechen vgl. Rauchfuss K. (2003): Der Susurluk Komplex. In: Azzellini D, Kanzleiter B. (Hg.): Das Unternehmen Krieg. S. 53-70. Berlin: Assoziation A http://www.gerechtigkeit-heilt.de/mesut_yilmaz/PrivateKiller.pdf





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