Von Knut Rauchfuss
Er galt als enthusiastischer Student der Anthropologie, humorvoll,
sympathisch und ausstrahlungsstark. Er war belesen, und man konnte
stundenlang mit ihm über Literatur, speziell über Poesie,
plaudern. Mühelos gelang es dem Endvierziger, die Akzeptanz seiner
KommilitonInnen zu erlangen, obgleich er als vergleichsweise
„alt“ galt. Doch die allgemeine Sympathie für den
Intellektuellen Néstor Jorge Fernandéz Tróccoli
brach am Sonntag, dem 5. Mai 1996, wie ein Kartenhaus zusammen.
An jenem Tag veröffentlichte die Zeitung El País einen
langen Brief, in dem der ehemalige Hauptmann über seine Rolle als
Offizier des Marinegeheimdienstes FUSNA während der uruguayischen
Militärdiktatur Auskunft gab, die Verbrechen der Diktatur offen
rechtfertigte und die öffentliche Debatte über die Verbrechen
der Diktatur mit einer Hexenjagd nach dem Vorbild der spanischen
Inquisition verglich:
„Ich bekenne, gegen die
Guerilla gekämpft zu haben, mit aller Kraft und mit allen Mitteln,
die mir zur Verfügung standen, ich gebe zu, Dinge gemacht zu
haben, auf die ich nicht stolz bin, […] ich gestehe ein, in die
Gewalt eingetaucht zu sein, […] meine Feinde unmenschlich
behandelt zu haben, aber ohne Hass, so wie ein professioneller
Gewalttäter handeln muss. Fragen Sie mich keine schmerzvollen
Details. […] Wie schon im großen Bürgerkrieg
[…] haben wir Uruguayer uns gegenseitig umgebracht und
gefoltert. […] Ich habe niemand getötet, und ich weiß
auch nichts über das Thema der Verschwundenen, aber nicht wegen
eines humanitären Altruismus, sondern weil ich
(glücklicherweise) nicht in diese Situation kam. […] Mir
bleibt kein Hass mehr, nur noch die große Desillusionierung einer
in weiten Teilen verlorenen Jugend, und der Ungerechtigkeit von
Nächten, fernab meiner Familie, notwendig ihnen die Dinge zu
verheimlichen und sie zu belügen. […] Ich war beruflich gut
[…] sagen wir, es war ein schmutziger Krieg, aber nicht weniger
heldenhaft als andere. […] Man kann die Vergangenheit nicht mit
den Werten und Normen der Gegenwart verurteilen. Ich klage diejenigen
an, die nicht fähig sind, den Kampf zu würdigen […]
und fortfahren, die Wunden zu öffnen um den Schmerz zu
kommerzialisieren.“
Tróccoli sah sich zu dieser öffentlichen Reaktion
gezwungen, nachdem sein Name wenige Wochen zuvor in einem anonymen
Bekenntnis zweier anderer Offiziere gefallen war. In seinen
Büchern „Der Zorn des Leviathan“ und „Die Stunde
des Plünderers“, sowie uruguayischen Talk Shows führte
er diese Gedanken genauer aus und berichtete von den Folterungen, an
denen er beteiligt war.
Zwischen Juni 1977 und April 1978 war Tróccoli als
Geheimdienstoffizier des FUSNA nach Argentinien abkommandiert. Dort war
er damit betraut, die Kooperation zwischen den argentinischen und
uruguayischen Marinegeheimdiensten zu „koordinieren“, was
in der Praxis bedeutete: die Zusammenarbeit bei Entführung,
Folter, Mord und beim Verschwindenlassen uruguayischer Oppositioneller
im argentinischen Exil.
Mit „Automotores Orletti“ betrieb der uruguayische FUSNA
mindestens ein eigenes geheimes Folterzentrum mitten in Buenos Aires.
Dort verliert sich die Spur von mehr als 75 Prozent der uruguayischen
Verschwundenen. Andere wurden mit Geheimflügen in uruguayische
Haftlager verschleppt. (vgl. ak 500, S. 22)
Jorge Tróccoli war einer jener Offiziere, die den Plan Cóndor
in die Praxis umsetzten, eine Geheimoperation der
Militärdiktaturen des lateinamerikanischen Südens, zur
grenzüberschreitenden Verfolgung von RegimegegnerInnen.
Faktisch begann die Operation Cóndor bereits 1973, wurde aber
erst Ende 1975 auf einer Konferenz der Geheimdienste in Santiago de
Chile formalisiert. Anfänglich waren die Geheimpolizeien
Argentiniens, Boliviens, Brasiliens, Chiles, Paraguays und Uruguays an
der Operation beteiligt. Spätestens 1978 schloss sich auch Peru
dem Plan an. Im Zuge der Operation Cóndor verschwanden in diesem
Zeitraum mehr als 50.000 Menschen spurlos. Allein 30.000 von ihnen
wurden in Argentinien in geheime Folterzentren verschleppt und ermordet.
Einer, der 1978 in einem der argentinischen Folterzentren geboren
wurde, ist Carlos D’Elia Casco. Sein Vater und seine schwangere
Mutter waren kurz zuvor verschleppt worden. Beide Eltern wurden kurz
nach Carlos’ Geburt mit einem der von Marineoffizier
Tróccoli organisierten Geheimflüge nach Uruguay verbracht
und dort ermordet. Ihre Leichen wurden nie gefunden.
Auch ihr Sohn Carlos galt 15 Jahre lang als verschwunden. Wie 500
weitere entführte Kinder wuchs er in einer argentinischen
Militärfamilie auf, bis er 1995 von den Großmüttern der
Plaza de Mayo gefunden wurde und seine echte Identität zurück
erhielt.
„Es ist wichtig, dass die Täter verhaftet werden und
bezahlen müssen“, erklärte der heute
Dreißigjährige öffentlich. „Aber am wichtigsten
ist es, die Wahrheit herauszufinden. Ich fordere Gerechtigkeit und
Wahrheit.“
Doch bis vor wenigen Jahren verhinderten Amnestiegesetze in Argentinien
wie in Uruguay jegliche Form der strafrechtlichen Verfolgung von
Diktaturverbrechen. Carlos d’Elia, dessen Vater italienischer
Abstammung war, schloss sich einer Gruppe von Familienangehörigen
von Verschwundenen an, die Ende der Neunziger Jahre begonnen hatten,
die Justiz in Rom anzurufen. Nachdem Italien die
Staatsbürgerschaft von Carlos’ Vater anerkannt hatte, nahm
Staatsanwalt Giancarlo Capaldo den Fall D’Elia in die bereits
seit 1983 in Italien geführten Ermittlungen zum Plan Cóndor
auf. Capaldo reiste nach Uruguay und beschaffte auch Informationen aus
den paraguayischen Archiven. Über Jahre hinweg sammelte er Beweise
und Zeugenaussagen, bis er schließlich im Jahr 2002 beantragte,
in bis heute 25 Fällen von Verschwindenlassen, das Verfahren gegen
jene Verantwortlichen der Operation Cóndor zu eröffnen, die
an der Entführung von italienischen Staatsbürgern beteiligt
waren.
Unterdessen wurde auch in Uruguay die gesetzlich verordnete
Straflosigkeit brüchig. Im März 2006 gelang es der
Anwältin Hebe Martínez Burlé und ihrem Kollegen
Walter de León, den ehemaligen Dikatator Juán
María Bordaberry vor Gericht zu bringen, und am 17. Dezember
2007 wurde die Hauptverhandlung gegen seinen Nachfolger General
Gregorio Alvarez, sowie gegen weitere Verantwortliche für die
uruguayischen Diktaturverbrechen eröffnet.
Eigentlich sollte auch Jorge Tróccoli mit vor Gericht stehen,
der Sechzigjährige befand sich aber bereits auf der Flucht vor der
Justiz und in Abwesenheit darf vor einem uruguayischen Gericht nicht
verhandelt werden. Schon im September hatte sich Tróccoli
zunächst nach Brasilien abgesetzt. Danach flüchtete
Tróccoli, der fünf Jahre zuvor die italienische
Staatsbürgerschaft erworben hatte, weiter nach Italien.
Der uruguayische Richter Luis Charles ließ Tróccoli mit
einem internationalen Haftbefehl suchen. Am 24. Dezember 2007 stellte
sich Tróccoli im süditalienischen Salerno den
Behörden, vermutlich in der Hoffnung, als italienischer
Staatsbürger nicht nach Montevideo ausgeliefert zu werden. Was
Tróccoli jedoch scheinbar nicht zu wissen schien, war, dass der
römische Staatsanwalt Capaldo mittlerweile auch gegen ihn
ermittelte, wegen des Verschwindenlassens der Eltern von Carlos
D’Elia und zweier weiterer Entführungsfälle. Noch am
selben Tag stellte die römische Untersuchungsrichterin Luisiana
Figliolia einen internationalen Haftbefehl gegen Tróccoli und
gegen weitere 145 Verantwortliche der Operation Cóndor aus.
Tróccoli wurde verhaftet und in ein Gefängnis nach Rom
überstellt.
Es ist das erste Mal, dass jemand einen derart massiven Haftbefehl
gegen Unterdrücker aus so vielen Ländern richtet“,
kommentierte der in Spanien lebende Menschenrechtsanwalt Carlos Slepoy
den italienischen Vorstoß, „ dieser Typus an Kriminellen
müsste von allen Gerichten verfolgt werden und in keinem Teil der
Welt dürften sie mehr frei herumlaufen können.“
Die Haftbefehle erstrecken sich auf alle unmittelbar an der Operation
beteiligten Länder und lesen sich wie ein „Who is
Who“, des südamerikanischen Staatsterrors. Aus Argentinien
werden 61, aus Uruguay 32, aus Chile 22, aus Brasilien 13, aus Bolivien
7, aus Paraguay ebenfalls 7 und aus Peru 4 Angehörige von
Militär und Polizei oder auch Zivilisten wegen Beteiligung an
Massakern, Entführung, Folter und vielfachen Mordes gesucht.
Sechs der auf der Liste stehenden Personen sind bereits verstorben. Es
handelt sich um den chilenischen Putschistengeneral Augusto Pinochet,
seinen bolivianischen Amtskollegen Hugo Banzer, den brasilianischen
„de facto“-Präsidenten João Baptista de
Figueiredo und den paraguayischen Ex-Diktator Alfredo Stroessner, sowie
zwei seiner Generäle, Alejandro Fretes Dávalos und Galo
Longino Escobar.
Unter den 140 übrigen finden sich nicht minder prominente Namen,
so z.B. diejenigen der argentinischen Juntamitglieder Jorge Rafael
Videla, Emilio Eduardo Massera und des uruguayischen
zivil-militärischen-Diktators Juan María Bordaberry, seines
ehmaligen Außenministers Juan Carlos Blanco und weiterer
Minister, ebenso wie seines Amtsnachfolgers General Alvarez.
Auch der chilenische Ex-Geheimdienstchef Manuel Contreras und sein
ehemaliger Stellvertreter Pedro Espinoza sind neben weiteren
Geheimdienstlern und Folterern auf der Fahndungsliste vertreten.
Aus Bolivien tauchen mit den Namen Jorge García Meza und Juan
Perada Abun gleich zwei weitere Ex-Präsidenten auf und mit ihnen
zwei ehemalige Innenminister und verschiedene Polizeibeamte und
Folterer.
Aus Brasilien dominieren die Namen von Ex-Generälen und
Geheimdienstchefs wie Carlos Alberto Ponzi und Agnaldo del Nero Augusto.
Unter den paraguayischen Namen findet sich u. a. der ehemalige
Innenminister Stroessners, Sabino Augusto Montanaro, der heute im Exil
in Honduras lebt, und aus Peru fallen die Namen des ehemaligen
Diktators Francisco Bermudes Morales und seines Premierministers Pedro
Richter Prada ins Auge.
Anfang Februar beantragte das italienische Justizministerium die Auslieferung der per Haftbefehl Gesuchten.
Es ist nicht das erste Mal, dass Italien gegen Verantwortliche der
lateinamerikanischen Militärdiktaturen prozessiert. Im März
2007 verurteilte ein italienisches Gericht fünf ehemalige
argentinische Militärs in Abwesenheit wegen Verbrechen gegen die
Menschheit zu lebenslanger Haft: Alfredo Astiz, Jorge
„Tigre“ Acosta, Jorge Vildoza, der sich seit 1987 auf der
Flucht vor der Justiz befindet, Antonio Vañek und Héctor
Febres, der am 10. Dezember in einem Gefängnis in Buenos Aires
unter noch ungeklärten Umständen ums Leben kam. Und im Jahr
2000 wurden die Generäle Guillermo Suárez Mason und
Santiago Riveros zu lebenslanger Haft verurteilt. Ein vor zwei Jahren
aus gesundheitlichen Gründen ausgesetzter Prozess gegen das
ehemalige Juntamitglied Marnegeneral Emilio Massera wurde Mitte Januar
wieder aufgenommen. Noch in diesem Jahr möchte Staatsanwalt
Capaldo die Hauptverhandlung gegen Tróccoli und die übrigen
139 Repräsentanten der Operation Cóndor eröffnen
lassen.
Auch ist Tróccoli nicht der erste lateinamerikanische
Militär, der in Italien festgenommen wurde. Im August 2002
verhafteten die Behörden auf dem Flughafen Fiumicino den
ehemaligen Leiter eines argentinischen Folterzentrums, Jorge Olivera,
aufgrund eines französischen Haftbefehls. Doch nur wenige Tage
später wurde Olivera unerwartet auf freien Fuß gesetzt und
konnte heimlich nach Argentinien ausreisen.
Damals mutmaßten die Medien, dass Oliveras Flucht durch seine guten Kontakte zu Mitgliedern der italienischen Geheimloge Propaganda Due (P 2) organisiert worden sei. P 2 war Teil des Gladio-Netzwerkes
und unterhielt gute Kontakte in die Militärdiktaturen
Südamerikas. Auf den Mitgliedslisten, die die italienische Polizei
1981 sicherstellte, fanden sich die Namen zahlreicher italienischer
Politiker, einschließlich der Ministerpräsidenten Andreotti
und Berlusconi, sowie argentinische, paraguayische und uruguayische
Militärs und Geheimdienstler.
Ein Untersuchungsausschuss des italienischen Parlamentes deckte die
Struktur der P 2 und ihre Verbindungen zur Operation Condór
sowie zur faschistischen Rechten Italiens auf, die u. a. 1975 an der
Durchführung des Attentates auf den im römischen Exil
befindlichen chilenischen Christdemokraten Bernardo Leighton und seine
Ehefrau beteiligt war. Für dieses Attentat wurde der chilenische
Geheimdienstchef Manuel Contreras 1995 in Abwesenheit durch ein
italienisches Gericht zu 20 Jahren Haft verurteilt.
Auch anlässlich der Verhaftung Tróccolis diskutieren
italienische Medien heute wieder die Verbindungen zwischen P 2 und der
Operation Cóndor. Es wird befürchtet, dass die noch
existierenden Verbindungen der 1981 formell aufgelösten Loge auch
Tróccoli zur Flucht verhelfen könnten.
Tróccoli indes baut seine Verteidigung darauf auf, lediglich
Befehle ausgeführt und niemanden selbst ermordet zu haben. Am 14.
Januar setzte das Haftprüfungsgericht den italienischen Haftbefehl
aus – ein erster Erfolg für Tróccoli, der jedoch
wegen des uruguayischen Auslieferungsersuchens noch weiter in Haft
bleibt. Der Überstellung an die argentinische Justiz jedoch hofft
er als italienischer Staatsbürger zu entgehen.
Die neuerlichen italienischen Haftbefehle schlugen große Wellen
in den betroffenen Ländern. Während vor allem aus Argentinien
und Uruguay, wo ebenfalls gegen zahlreiche ehemalige Machthaber
prozessiert wird, sowie aus Paraguay Zustimmung und
Kooperationsbereitschaft signalisiert wurden, sperren sich insbesondere
Peru und Brasilien vehement gegen eine Auslieferung der gesuchten
ehemaligen Machthaber. Doch auch in Peru und Brasilien hat die
Capaldo-Liste eine öffentliche Debatte über die
Straflosigkeit begonnen, deren Folgen ähnlich weitreichend sein
können, wie die der Verhaftung Pinochets vor zehn Jahren in London.
(erschienen in analyse & kritik Nr. 525, Februar 2008)