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Kampagne gegen die Straflosigkeit

Gerechtigkeit heilt

Medizinische Flüchtlingshilfe Bochum e.V.

Die Liste des Giancarlo Capaldo
146 Haftbefehle bedrängen die Spitzen der südamerikanischen Repression

Von Knut Rauchfuss

 
Er galt als enthusiastischer Student der Anthropologie, humorvoll, sympathisch und ausstrahlungsstark. Er war belesen, und man konnte stundenlang mit ihm über Literatur, speziell über Poesie, plaudern. Mühelos gelang es dem Endvierziger, die Akzeptanz seiner KommilitonInnen zu erlangen, obgleich er als vergleichsweise „alt“ galt. Doch die allgemeine Sympathie für den Intellektuellen Néstor Jorge Fernandéz Tróccoli brach am Sonntag, dem 5. Mai 1996, wie ein Kartenhaus zusammen.

An jenem Tag veröffentlichte die Zeitung El País einen langen Brief, in dem der ehemalige Hauptmann über seine Rolle als Offizier des Marinegeheimdienstes FUSNA während der uruguayischen Militärdiktatur Auskunft gab, die Verbrechen der Diktatur offen rechtfertigte und die öffentliche Debatte über die Verbrechen der Diktatur mit einer Hexenjagd nach dem Vorbild der spanischen Inquisition verglich:
„Ich bekenne, gegen die Guerilla gekämpft zu haben, mit aller Kraft und mit allen Mitteln, die mir zur Verfügung standen, ich gebe zu, Dinge gemacht zu haben, auf die ich nicht stolz bin, […] ich gestehe ein, in die Gewalt eingetaucht zu sein, […] meine Feinde unmenschlich behandelt zu haben, aber ohne Hass, so wie ein professioneller Gewalttäter handeln muss. Fragen Sie mich keine schmerzvollen Details. […] Wie schon im großen Bürgerkrieg […] haben wir Uruguayer uns gegenseitig umgebracht und gefoltert. […] Ich habe niemand getötet, und ich weiß auch nichts über das Thema der Verschwundenen, aber nicht wegen eines humanitären Altruismus, sondern weil ich (glücklicherweise) nicht in diese Situation kam. […] Mir bleibt kein Hass mehr, nur noch die große Desillusionierung einer in weiten Teilen verlorenen Jugend, und der Ungerechtigkeit von Nächten, fernab meiner Familie, notwendig ihnen die Dinge zu verheimlichen und sie zu belügen. […] Ich war beruflich gut […] sagen wir, es war ein schmutziger Krieg, aber nicht weniger heldenhaft als andere. […] Man kann die Vergangenheit nicht mit den Werten und Normen der Gegenwart verurteilen. Ich klage diejenigen an, die nicht fähig sind, den Kampf zu würdigen […] und fortfahren, die Wunden zu öffnen um den Schmerz zu kommerzialisieren.“
Tróccoli sah sich zu dieser öffentlichen Reaktion gezwungen, nachdem sein Name wenige Wochen zuvor in einem anonymen Bekenntnis zweier anderer Offiziere gefallen war. In seinen Büchern „Der Zorn des Leviathan“ und „Die Stunde des Plünderers“, sowie uruguayischen Talk Shows führte er diese Gedanken genauer aus und berichtete von den Folterungen, an denen er beteiligt war.

Zwischen Juni 1977 und April 1978 war Tróccoli als Geheimdienstoffizier des FUSNA nach Argentinien abkommandiert. Dort war er damit betraut, die Kooperation zwischen den argentinischen und uruguayischen Marinegeheimdiensten zu „koordinieren“, was in der Praxis bedeutete: die Zusammenarbeit bei Entführung, Folter, Mord und beim Verschwindenlassen uruguayischer Oppositioneller im argentinischen Exil.
Mit „Automotores Orletti“ betrieb der uruguayische FUSNA mindestens ein eigenes geheimes Folterzentrum mitten in Buenos Aires. Dort verliert sich die Spur von mehr als 75 Prozent der uruguayischen Verschwundenen. Andere wurden mit Geheimflügen in uruguayische Haftlager verschleppt. (vgl. ak 500, S. 22)

Jorge Tróccoli war einer jener Offiziere, die den Plan Cóndor in die Praxis umsetzten, eine Geheimoperation der Militärdiktaturen des lateinamerikanischen Südens, zur grenzüberschreitenden Verfolgung von RegimegegnerInnen.
Faktisch begann die Operation Cóndor bereits 1973, wurde aber erst Ende 1975 auf einer Konferenz der Geheimdienste in Santiago de Chile formalisiert. Anfänglich waren die Geheimpolizeien Argentiniens, Boliviens, Brasiliens, Chiles, Paraguays und Uruguays an der Operation beteiligt. Spätestens 1978 schloss sich auch Peru dem Plan an. Im Zuge der Operation Cóndor verschwanden in diesem Zeitraum mehr als 50.000 Menschen spurlos. Allein 30.000 von ihnen wurden in Argentinien in geheime Folterzentren verschleppt und ermordet.

Einer, der 1978 in einem der argentinischen Folterzentren geboren wurde, ist Carlos D’Elia Casco. Sein Vater und seine schwangere Mutter waren kurz zuvor verschleppt worden. Beide Eltern wurden kurz nach Carlos’ Geburt mit einem der von Marineoffizier Tróccoli organisierten Geheimflüge nach Uruguay verbracht und dort ermordet. Ihre Leichen wurden nie gefunden.
Auch ihr Sohn Carlos galt 15 Jahre lang als verschwunden. Wie 500 weitere entführte Kinder wuchs er in einer argentinischen Militärfamilie auf, bis er 1995 von den Großmüttern der Plaza de Mayo gefunden wurde und seine echte Identität zurück erhielt.
„Es ist wichtig, dass die Täter verhaftet werden und bezahlen müssen“, erklärte der heute Dreißigjährige öffentlich. „Aber am wichtigsten ist es, die Wahrheit herauszufinden. Ich fordere Gerechtigkeit und Wahrheit.“

Doch bis vor wenigen Jahren verhinderten Amnestiegesetze in Argentinien wie in Uruguay jegliche Form der strafrechtlichen Verfolgung von Diktaturverbrechen. Carlos d’Elia, dessen Vater italienischer Abstammung war, schloss sich einer Gruppe von Familienangehörigen von Verschwundenen an, die Ende der Neunziger Jahre begonnen hatten, die Justiz in Rom anzurufen. Nachdem Italien die Staatsbürgerschaft von Carlos’ Vater anerkannt hatte, nahm Staatsanwalt Giancarlo Capaldo den Fall D’Elia in die bereits seit 1983 in Italien geführten Ermittlungen zum Plan Cóndor auf. Capaldo reiste nach Uruguay und beschaffte auch Informationen aus den paraguayischen Archiven. Über Jahre hinweg sammelte er Beweise und Zeugenaussagen, bis er schließlich im Jahr 2002 beantragte, in bis heute 25 Fällen von Verschwindenlassen, das Verfahren gegen jene Verantwortlichen der Operation Cóndor zu eröffnen, die an der Entführung von italienischen Staatsbürgern beteiligt waren.

Unterdessen wurde auch in Uruguay die gesetzlich verordnete Straflosigkeit brüchig. Im März 2006 gelang es der Anwältin Hebe Martínez Burlé und ihrem Kollegen Walter de León, den ehemaligen Dikatator Juán María Bordaberry vor Gericht zu bringen, und am 17. Dezember 2007 wurde die Hauptverhandlung gegen seinen Nachfolger General Gregorio Alvarez, sowie gegen weitere Verantwortliche für die uruguayischen Diktaturverbrechen eröffnet.
Eigentlich sollte auch Jorge Tróccoli mit vor Gericht stehen, der Sechzigjährige befand sich aber bereits auf der Flucht vor der Justiz und in Abwesenheit darf vor einem uruguayischen Gericht nicht verhandelt werden. Schon im September hatte sich Tróccoli zunächst nach Brasilien abgesetzt. Danach flüchtete Tróccoli, der fünf Jahre zuvor die italienische Staatsbürgerschaft erworben hatte, weiter nach Italien.

Der uruguayische Richter Luis Charles ließ Tróccoli mit einem internationalen Haftbefehl suchen. Am 24. Dezember 2007 stellte sich Tróccoli im süditalienischen Salerno den Behörden, vermutlich in der Hoffnung, als italienischer Staatsbürger nicht nach Montevideo ausgeliefert zu werden. Was Tróccoli jedoch scheinbar nicht zu wissen schien, war, dass der römische Staatsanwalt Capaldo mittlerweile auch gegen ihn ermittelte, wegen des Verschwindenlassens der Eltern von Carlos D’Elia und zweier weiterer Entführungsfälle. Noch am selben Tag stellte die römische Untersuchungsrichterin Luisiana Figliolia einen internationalen Haftbefehl gegen Tróccoli und gegen weitere 145 Verantwortliche der Operation Cóndor aus. Tróccoli wurde verhaftet und in ein Gefängnis nach Rom überstellt.

Es ist das erste Mal, dass jemand einen derart massiven Haftbefehl gegen Unterdrücker aus so vielen Ländern richtet“, kommentierte der in Spanien lebende Menschenrechtsanwalt Carlos Slepoy den italienischen Vorstoß, „ dieser Typus an Kriminellen müsste von allen Gerichten verfolgt werden und in keinem Teil der Welt dürften sie mehr frei herumlaufen können.“
Die Haftbefehle erstrecken sich auf alle unmittelbar an der Operation beteiligten Länder und lesen sich wie ein „Who is Who“, des südamerikanischen Staatsterrors. Aus Argentinien werden 61, aus Uruguay 32, aus Chile 22, aus Brasilien 13, aus Bolivien 7, aus Paraguay ebenfalls 7 und aus Peru 4 Angehörige von Militär und Polizei oder auch Zivilisten wegen Beteiligung an Massakern, Entführung, Folter und vielfachen Mordes gesucht.
Sechs der auf der Liste stehenden Personen sind bereits verstorben. Es handelt sich um den chilenischen Putschistengeneral Augusto Pinochet, seinen bolivianischen Amtskollegen Hugo Banzer, den brasilianischen „de facto“-Präsidenten João Baptista de Figueiredo und den paraguayischen Ex-Diktator Alfredo Stroessner, sowie zwei seiner Generäle, Alejandro Fretes Dávalos und Galo Longino Escobar.
Unter den 140 übrigen finden sich nicht minder prominente Namen, so z.B. diejenigen der argentinischen Juntamitglieder Jorge Rafael Videla, Emilio Eduardo Massera und des uruguayischen zivil-militärischen-Diktators Juan María Bordaberry, seines ehmaligen Außenministers Juan Carlos Blanco und weiterer Minister, ebenso wie seines Amtsnachfolgers General Alvarez.
Auch der chilenische Ex-Geheimdienstchef Manuel Contreras und sein ehemaliger Stellvertreter Pedro Espinoza sind neben weiteren Geheimdienstlern und Folterern auf der Fahndungsliste vertreten.
Aus Bolivien tauchen mit den Namen Jorge García Meza und Juan Perada Abun gleich zwei weitere Ex-Präsidenten auf und mit ihnen zwei ehemalige Innenminister und verschiedene Polizeibeamte und Folterer.
Aus Brasilien dominieren die Namen von Ex-Generälen und Geheimdienstchefs wie Carlos Alberto Ponzi und Agnaldo del Nero Augusto.
Unter den paraguayischen Namen findet sich u. a. der ehemalige Innenminister Stroessners, Sabino Augusto Montanaro, der heute im Exil in Honduras lebt, und aus Peru fallen die Namen des ehemaligen Diktators Francisco Bermudes Morales und seines Premierministers Pedro Richter Prada ins Auge.
Anfang Februar beantragte das italienische Justizministerium die Auslieferung der per Haftbefehl Gesuchten.
 
Es ist nicht das erste Mal, dass Italien gegen Verantwortliche der lateinamerikanischen Militärdiktaturen prozessiert. Im März 2007 verurteilte ein italienisches Gericht fünf ehemalige argentinische Militärs in Abwesenheit wegen Verbrechen gegen die Menschheit zu lebenslanger Haft: Alfredo Astiz, Jorge „Tigre“ Acosta, Jorge Vildoza, der sich seit 1987 auf der Flucht vor der Justiz befindet, Antonio Vañek und Héctor Febres, der am 10. Dezember in einem Gefängnis in Buenos Aires unter noch ungeklärten Umständen ums Leben kam. Und im Jahr 2000 wurden die Generäle Guillermo Suárez Mason und Santiago Riveros zu lebenslanger Haft verurteilt. Ein vor zwei Jahren aus gesundheitlichen Gründen ausgesetzter Prozess gegen das ehemalige Juntamitglied Marnegeneral Emilio Massera wurde Mitte Januar wieder aufgenommen. Noch in diesem Jahr möchte Staatsanwalt Capaldo die Hauptverhandlung gegen Tróccoli und die übrigen 139 Repräsentanten der Operation Cóndor eröffnen lassen.

Auch ist Tróccoli nicht der erste lateinamerikanische Militär, der in Italien festgenommen wurde. Im August 2002 verhafteten die Behörden auf dem Flughafen Fiumicino den ehemaligen Leiter eines argentinischen Folterzentrums, Jorge Olivera, aufgrund eines französischen Haftbefehls. Doch nur wenige Tage später wurde Olivera unerwartet auf freien Fuß gesetzt und konnte heimlich nach Argentinien ausreisen.
Damals mutmaßten die Medien, dass Oliveras Flucht durch seine guten Kontakte zu Mitgliedern der italienischen Geheimloge Propaganda Due (P 2) organisiert worden sei. P 2 war Teil des Gladio-Netzwerkes und unterhielt gute Kontakte in die Militärdiktaturen Südamerikas. Auf den Mitgliedslisten, die die italienische Polizei 1981 sicherstellte, fanden sich die Namen zahlreicher italienischer Politiker, einschließlich der Ministerpräsidenten Andreotti und Berlusconi, sowie argentinische, paraguayische und uruguayische Militärs und Geheimdienstler.
Ein Untersuchungsausschuss des italienischen Parlamentes deckte die Struktur der P 2 und ihre Verbindungen zur Operation Condór sowie zur faschistischen Rechten Italiens auf, die u. a. 1975 an der Durchführung des Attentates auf den im römischen Exil befindlichen chilenischen Christdemokraten Bernardo Leighton und seine Ehefrau beteiligt war. Für dieses Attentat wurde der chilenische Geheimdienstchef Manuel Contreras 1995 in Abwesenheit durch ein italienisches Gericht zu 20 Jahren Haft verurteilt.

Auch anlässlich der Verhaftung Tróccolis diskutieren italienische Medien heute wieder die Verbindungen zwischen P 2 und der Operation Cóndor. Es wird befürchtet, dass die noch existierenden Verbindungen der 1981 formell aufgelösten Loge auch Tróccoli zur Flucht verhelfen könnten.
Tróccoli indes baut seine Verteidigung darauf auf, lediglich Befehle ausgeführt und niemanden selbst ermordet zu haben. Am 14. Januar setzte das Haftprüfungsgericht den italienischen Haftbefehl aus – ein erster Erfolg für Tróccoli, der jedoch wegen des uruguayischen Auslieferungsersuchens noch weiter in Haft bleibt. Der Überstellung an die argentinische Justiz jedoch hofft er als italienischer Staatsbürger zu entgehen.

Die neuerlichen italienischen Haftbefehle schlugen große Wellen in den betroffenen Ländern. Während vor allem aus Argentinien und Uruguay, wo ebenfalls gegen zahlreiche ehemalige Machthaber prozessiert wird, sowie aus Paraguay Zustimmung und Kooperationsbereitschaft signalisiert wurden, sperren sich insbesondere Peru und Brasilien vehement gegen eine Auslieferung der gesuchten ehemaligen Machthaber. Doch auch in Peru und Brasilien hat die Capaldo-Liste eine öffentliche Debatte über die Straflosigkeit begonnen, deren Folgen ähnlich weitreichend sein können, wie die der Verhaftung Pinochets vor zehn Jahren in London.
 

(erschienen in analyse & kritik Nr. 525, Februar 2008)

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