Die Gacaca-Rechtsprechung sind Tribunale, die gegründet wurden, um die Rechtsstreitigkeiten des
Genozids an den Tutsi in Ruanda (1994) abzuwickeln. Diese Tribunale versammeln alle Bürger ab
18 Jahren in den politisch-administrativen Distrikten der Basis: der Zelle und dem Sektor. Diese
begrenzen eine symbolischen sozialen Raum, in dem die Mitglieder der implodierten ruandischen
Gesellschaft von 1994 sich treffen und die Bedingungen ihres neuen gemeinsamen Lebens verhandeln.
Hier versuchen sie so gut wie möglich eine Kommunikation über den Grund der Dinge: das
Leben und den Tod, die Verantwortung und die Schuld, das Gute und das Schlechte, die Wahrheit und
die Lüge, die Gerechtigkeit und die Geschichte ... Sie tun dies, in dem sie ihr Wissen
austauschen über das, was wirklich während des Genozids und der Massaker im April 1994
geschehen ist: Wer hat was gemacht, mit wem, wo, womit, wann? Wer hat was ertragen? Durch wen,
womit, wo, wie, wann, mit wem?
Während der Sitzungen der Gacaca-Tribunale entsteht eine kollektive Rückkehr zu den
begangenen und erlittenen Taten und ein Wiederaufstieg an die Oberfläche des Bewusstseins
über die damals empfundenen Eindrücke und Gefühle. Dies ermöglicht eine
Erfahrung, die es erlaubt, das Erlebte, Brutale, Gewaltvolle zu benennen, und deren Stoßwelle
nach und nach aufhört, ein unaussprechlicher, unverständlicher und unanerkannter
Fremdkörper in den Gedanken- und den individuellen und kollektiven Gefühlsschemata zu
sein.
Daraus ergibt sich, dass die Gacaca-Tribunale eine Katharsis ermöglichen, eine Selbsterfahrung,
deren Entwicklung von dem Verständnis abhängt, das man von dem Geschehenen hat und von
dem, was ihre Organisation erlaubt, daraus zu machen, sei es für Individuen, lokale
Gemeinschaften oder die Gesellschaft in ihrer Ganzheit.
Es stellt sich konsequenterweise als notwendig heraus, einen theoretischen Bezugsrahmen zu erdenken,
um die Gacaca-Rechtsprechung als einen sozio-juristischen Prozess zu sehen, der möglicherweise
auch geeignet sein kann, ein sozio-therapeutischer Prozess zu werden.
Unter welchen theoretischen und praktischen Bedingungen können die Gacaca-Tribunale zwei
Handlungen miteinander verbinden: das sozio-juristische und das sozio-therapeutische? Die Antwort
auf diese Frage lässt die vorhergehende Antwort auf folgende Fragen vermuten: Wer soll geheilt
werden? Wovon muss er/sie geheilt werden?
Fast jede/r in Ruanda würde sagen, dass alle RuanderInnen von einem Trauma geheilt werden
müssen. Doch das Wort „Trauma“ offenbart multiple Bedeutungen und enthält eine
Vielzahl von Verwirrungen.
Die Analyse des Wortes Trauma zeigt, dass seine Bedeutung zu allererst auf die Trauer und die
Trauerarbeit hinweist. Derjenige, der das Wort Trauma benutzt, bezeichnet damit den Schock, der
durch die Konfrontation mit dem Tod hervorgerufen wird, sei es der eigene Tod oder der von anderen,
direkt oder indirekt. Das Trauma weist auf einen Schock, verbunden mit dem Verlust oder dem
drohenden Verlust der physischen oder psychischen, sozialen oder moralischen Integrität.
Das Trauma geht über die Kapazität, das Geschehene, das Erlebte und das Überraschende
zu lesen, zu analysieren, zu erklären oder zu verstehen hinaus und fordert sie sogar heraus.
Da man sich überfragt und ohnmächtig fühlt, zu verstehen, was passiert ist, haben
Individuen sowie auch Gruppen und Gemeinschaften die Tendenz, sich zurückzuziehen, sich zu
isolieren und das traumatische Erlebnis immer wieder zu wiederholen. Wenn man ihnen aber
günstige Bedingungen anbietet, um sich auszudrücken, tun sie dies mehr oder weniger
bereitwillig. Doch bieten die Gacaca-Tribunale diese Bedingungen?
Sicherlich bieten sie Bedingungen, zu sprechen und sich auszudrücken. Doch reicht dies für
eine Heilung? Nein, denn es ist wichtig, dem Gesagten und dem, der sich ausdrückt, einen Sinn
zu geben. Die Zielsetzung der Einheit und Versöhnung würden eine solche Sinngebung
erlauben, doch es sind gerade diese Ziele, die sich am wenigsten in die sozio-juristische
Vorgehensweise, die durch die Gacaca-Tribunale etabliert wurde, integrieren lassen.
Hierzu gehören auch Geständnis und Schuldplädoyer, die Frage von Vergebung, doch ihre
Belebung durch das sozio-politisch-juristische Spiel und die ideologische Vorgeschichte kann ihnen
einen guten Teil ihres therapeutischen Wertes nehmen, da der Sinn, den die Ziele der Einheit und
Versöhnung vermitteln, sich hier zutiefst widerspricht.
Auf der Basis der Diskussion über all diese Hindernisse auf dem Weg zur Heilung bildet sich der
theoretische Bezugsrahmen und die unabdingbaren Ausrichtungen für die Einrichtung der
Gacaca-Tribunale als einen Raum für die Trauerarbeit und die Heilung des Traumas.
(Bochum, 15. Oktober 2005)