An die Regierung der Bundesrepublik Deutschland
an die Regierungen der Länder dieser Erde
an die internationale Gemeinschaft
Aus allen Regionen des Planeten haben wir uns in Bochum versammelt, weil uns die Überzeugung
eint, dass Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht straflos bleiben dürfen. Verbrechen gegen
die menschliche Würde, wie sie in vergangenen und gegenwärtigen Kriegen, in den
Folterkellern der Diktaturen und nur allzu oft auch der so genannten Demokratien systematisch
begangen wurden und werden.
Weil wir es nicht hingenommen haben und nicht hinnehmen werden, dass Menschen verfolgt und
vertrieben werden, in geheimen Folterzentren verschwinden, misshandelt und ermordet oder gleich auf
offener Straße hingerichtet werden. Und weil wir wissen, dass TäterInnen und UrheberInnen
dieser Verbrechen einen Namen und eine Adresse haben, unter der sie frei von Strafverfolgung
staatliche Pensionen beziehen oder sich aus vorsorglich angelegten Bereicherungskonten bedienen und
nicht selten von Parlamentssesseln, Vorstandsetagen oder Amtsitzen aus die Geschicke ihres Landes
weiter lenken.
Und weil wir wissen, dass jeder neue Tag, an dem sich Folterer, Vergewaltiger und Mörder weiter
frei auf den Straßen unserer Städte bewegen können, sich als neue Wunde tief in die
Seelen ihrer Opfer eingräbt und das gesamte gesellschaftliche Grundgefüge zerstört.
Aus Asien, Afrika, Europa und Lateinamerika kommend, haben wir uns hier versammelt um drei Tage lang
unsere Erfahrungen auszutauschen, die wir im Kampf gegen die Straflosigkeit dieser Verbrechen
gesammelt haben. Und wir haben Strategien entwickelt, wie wir diese Erfahrungen auch in Zukunft und
an anderen Orten gegen die TäterInnen verwenden werden.
Seit Jahren und Jahrzehnten arbeiten wir mit Überlebenden von Gewalt und mit den
Angehörigen der Opfer zusammen. Und ebenso lange setzen wir unsere Kraft dafür ein, die
Wahrheit über die Verbrechen ans Licht und die Verantwortlichen auf die Anklagebank zu bringen.
Die Wunden, die Diktaturen und Kriege in die Seelen der Überlebenden der Gewalt gerissen haben,
vernarben nur langsam. Nur die nötige Anerkennung der traumatischen Erlebnisse durch die
umgebende Gesellschaft eröffnet die Möglichkeit zur Aufarbeitung des Erlebten. Eine
Gesellschaft jedoch, in der die TäterInnen ihre Altersruhesitze pflegen, während ihre
Opfer vor den Therapiezentren Schlange stehen, verweigert diese Anerkennung jeden Tag aufs Neue.
Wir rufen daher dazu auf, der Straflosigkeit von Verbrechen gegen die Menschlichkeit ein Ende zu setzen, und fordern
a) von der Regierung der Bundesrepublik Deutschland:
Die GesetzgeberInnen der Bundesrepublik Deutschland müssen das Völkerstrafgesetzbuch in ein wirkliches Instrument zur Verfolgung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit verwandeln.
Dies schließt die Abschaffung der Ausnahmeregelungen in der Strafprozessordnung ein, die bislang regelmäßig die Eröffnung von Verfahren verhindert haben.
Die skandalöse Einstellung der Verfahren gegen die argentinischen Militärs vor deutschen Gerichten muss zurückgenommen werden. Gegebenenfalls sind die dafür nötigen rechtlichen Voraussetzungen zu schaffen.
Die Leitlinien zur deutschen Außenpolitik sollen die Unterstützung des Kampfes gegen Straflosigkeit, sowie den internationalen Menschenrechtsschutz, einschließlich des speziellen Schutzes vonMenschenrechtsverteidigerInnen zu vorrangigen Zielen erklären.
b) von den Regierungen der Länder dieser Erde:
Menschenrechtsverletzungen müssen von unabhängigen Kommissionen untersucht werden, die Überlebende und ZeugInnen anhören und die angezeigten Verbrechen systematisch, umfassend und gerichtsverwertbar dokumentieren. Berichte müssen öffentlich zugänglich sein und dürfen die Namen von TäterInnen nicht verschweigen.
Zur angemessenen Einbindung der Zivilgesellschaft sollen Kommissionen Menschenrechtsorganisationen, Selbsthilfegruppen und Vereinigungen von Überlebenden und Angehörigen angehören. Diese müssen einen gleichberechtigten Einfluss auf die Tätigkeit der Kommission erhalten. Die Arbeit von nationalen Kommissionen muss international überwacht werden.
Kommissionen müssen mit umfangreichen Rechtsvollmachten, der Zugangsberechtigung zu allen Archiven sowie den erforderlichen finanziellen und personellen Ressourcen ausgestattet sein. Hierzu gehört auch ein Ausbau des gerichtsmedizinischen Dienstes, um bei der Identifikation von Leichen und Tatumständen den Anforderungen gerecht werden zu können.
Überlebende von Menschenrechtsverletzungen und Angehörige von Opfern, die als ZeugInnen aussagen, haben ein Recht auf psychotherapeutischen Beistand und bei Bedarf auf Zeugenschutzprogramme.
TäterInnen müssen im Rahmen rechtsstaatlicher Verfahrensprozesse vor Gericht gestellt werden.
Alle Verbrechen der Staatsorgane an ZivilistInnen müssen vor zivilen Gerichten verhandelt werden.
Amnestieregelungen und Schlusspunktgesetze, mit denen sich TäterInnen in unterschiedlichen Ländern Straffreiheit für Kriegsverbrechen, Völkermord oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit verschafft haben, verstoßen gegen internationales Recht. Sie sind ersatzlos zu streichen. Sofern noch nicht geschehen, sind dafür die bestehenden internationalen Konventionen zu ratifizieren.
Zusätzlich ist dem Internationalen Strafgerichtshof (ICC) beizutreten.
Überlebende und Angehörige und Nachkommen von Opfern haben Anspruch auf Entschädigung. Alle Menschenrechtsverletzungen und Opfergruppen müssen in Entschädigungsprogramme einbezogen werden.
Entschädigungsprogramme müssen integral angelegt sein und neben materieller Wiedergutmachung zu einer umfassenden psychosozialen, politischen und kulturellen Rehabilitation und Wiedereingliederung in die gesellschaftlichen Lebensabläufe führen.
Es ist sicherzustellen, dass Ansprüche auf Entschädigung ohne zeitliche Beschränkung geltend gemacht werden können.
Mit einer Entschädigungszahlung darf nicht die Einstellung von Verfahren oder die Aufhebung eines gerichtlichen Untersuchungs- oder Strafverfolgungsanspruches verbunden sein.
Alle Staaten sind nachdrücklich aufgefordert, die UN-Konvention gegen das Verschwindenlassen zu unterzeichnen und zu ratifizieren.
UN-SonderberichterstatterInnen, unabhängigen Komitees und Arbeitsgruppen des UN-Menschenrechtssystems und entsprechender regionaler Systeme ist jederzeit ungehinderter Zugang zum Land zu gewähren.
c) von der internationalen Gemeinschaft:
Die internationale Gemeinschaft ist angehalten, die überstaatlichen Instrumente und Institutionen, die dem Menschenrechtsschutz dienen, mit höheren materiellen und personellen Ressourcen auszustatten.
Die Entwicklung der globalen Partnerschaft zur Vorbeugung von bewaffneten Konflikten soll vorangetrieben und unterstützt werden.
Bochum, 16. Oktober 2005